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Historische Hoffnung Historische Hoffnung: Immer weniger Ortschronisten in Sachsen-Anhalt

Von Julius Lukas Und Sylvia Czajka 22.07.2019, 10:00
Ortschronist Benny Berger inmitten alter Bücher -  der Hobby-Historiker  hat schon viele verloren geglaubte Schätze geborgen.
Ortschronist Benny Berger inmitten alter Bücher -  der Hobby-Historiker  hat schon viele verloren geglaubte Schätze geborgen. Andreas Stedtler 

Halle (Saale) - Beyersdorf ist klein. Sehr klein. So klein, dass die meisten den Ort, der nördlich von Sandersdorf-Brehna im Kreis Anhalt-Bitterfeld liegt, kaum bemerken. Das zumindest sagt Benny Berger, der eine ganze Weile in Beyersdorf lebte. „Kurz vor dem Ort gibt es einen Autobahnbrücke über die A 9“, erzählt Berger. „Nur wenn man die langsam runterfährt, entdeckt man am Straßenrand ein paar Häuser - das ist Beyersdorf.“

Ein Ort zum Verpassen also, zum Vorbeirauschen. Unscheinbar - und doch voller Geschichte. Denn auch das hat Benny Berger über Beyersdorf gelernt. 2009 zog der heute 38-Jährige in den 100-Einwohner-Ort. Damals hatte sich gerade ein Verein gegründet, der sich für den Erhalt der ortseigenen Kirche stark machte. Weil die 850-Jahr-Feier des Dorfs anstand, begann Berger sich mit dessen Geschichte zu befassen und rutscht so immer tiefer in die Historie von Beyersdorf hinein.

Festschrift zum Ortsjubiläum wird Einstieg in Leidenschaft

Als das 850-jährige Jubiläum dann 2011 begangen wurde, war sein Manuskript für die Festschrift stolze 300 Seiten lang - ein ziemlich dickes Buch für einen ziemlich kleinen Ort. „Wir haben uns schließlich auf 170 Seiten geeinigt“, erzählt Berger, der gerne auch mehr veröffentlicht hätte.

Für ihn waren die Recherchen über Beyersdorf nicht nur ein spannendes Kapitel Heimatgeschichte, sondern auch der Einstieg in eine Leidenschaft, die ihn bis heute begleitet. Berger, der in der Verwaltung der Stadt Zörbig (Anhalt-Bitterfeld) arbeitete, ist, was man gemeinhin als Ortschronisten bezeichnet - wobei er sich selbst so gar nicht nennen würde. Denn Benny Berger will nicht Jahreszahlen aneinander reihen, sondern Geschichten in der Geschichte finden. Erzählungen aus den Tiefen der Historie ausgraben, die zu erzählen es sich lohnt.

Mit diesem Anspruch und seiner Arbeit, die mittlerweile über Beyersdorf hinaus geht, ist Berger so etwas wie die Nachwuchshoffnung einer ganzen Zunft. Denn die Reihen der Ortschronisten und Heimatkundler lichten sich immer mehr. Annette Schneider-Reinhardt, Geschäftsführerin des Landesheimatbundes Sachsen-Anhalt, schätzt, dass es noch etwa 800 bis 900 Chronisten im Land gibt. „Und es werden von Jahr zu Jahr weniger.“

Chronistenpflicht durch Erlass aus dem Jahr 1955

Die große Tradition im Bereich der Heimatgeschichte geht im Osten Deutschlands auf einen Erlass von 1955 zurück. Damals wurden alle Kommunen dazu verpflichtet, einen Ortschronisten zu benennen. Untereinander vernetzten sich die Regionalhistoriker. Der Austausch war rege.

Doch mit dem Ende der von oben verordneten Geschichtsschreiberei ging auch der Zulauf von Nachwuchskräften zurück. Die verbliebenen Chronisten werden entsprechend immer weniger und freilich auch immer älter. In Jeßnitz etwa ist der 82-Jährige Helmut Ernst seit langem schon ein Einzelkämpfer. Über Jahrzehnte hinweg erforschte er die Historie seiner Stadt. „Ein Nachfolger ist für mich nicht in Sicht“, sagt Ernst heute.

Um diesem Mangel zu begegnen und auch die bestehenden Strukturen zu stärken, arbeitet der Landesheimatbund in einem Projekt zusammen mit der Uni Halle an einer Art Ortschronisten-Netzwerk. Dabei werden zuerst die aktiven Heimathistoriker erfasst und anschließend der Austausch untereinander gefördert. Auch Weiterbildungen, etwa in Recherchetechniken, sollen angeboten werden. „Es ist wichtig, dass die ehrenamtlichen Geschichtsschreiber merken, dass sie nicht allein unterwegs sind“, sagt Benny Berger, der sich für das Netzwerk engagiert. So könne vielleicht auch die Attraktivität der Regionalhistorie wieder etwas gesteigert werden. Denn dass es Nachwuchssorgen gibt, stellt auch Berger fest - wenngleich er oftmals erstaunt sei, wie viele Ortschronisten es dann doch noch gibt.

Projekt in Beyersdorf: Detektivarbeit in den Archiven

„Allerdings kenne ich auch niemanden, der Jünger ist als ich“, sagt Berger und überlegt dann, wieso er überhaupt diesen Weg einschlug. „Auch in meinem Bekanntenkreis gibt es Menschen die sagen: Wen interessiert das, was du da machst“, erzählt er. „Aber genauso kann ich einem Fußballfan fragen: Was hast Du davon, deinem Verein jedes zweite Wochenende Hunderte Kilometer hinterherzufahren?“

Beim Projekt in Beyersdorf habe ihn die Detektivarbeit in den Archiven gereizt, die Zeitzeugeninterviews und das Wühlen in alten Unterlagen. „Ich habe zum Beispiel eine alte Schulchronik der Jahre 1900 bis 1945 entdeckt“, erzählt Berger. Die sei in Sütterlin geschrieben gewesen. Er habe sie erst transkribiert und dann ausgewertet. „Da taucht man in eine Welt ab, die längst vergangen ist und die man zu neuem Leben erwecken kann.“

Solche verloren gegangenen Schätze zu bergen, fasziniert den Hobby-Historiker. Bei der Arbeit an der Festschrift für den kleinen Ort Werben stieß er zum Beispiel auf den einstmals bundesweit bekannten Radfahrer Franz Dost. „Der wurde in Werben geboren, bekannt ist er heute jedoch nicht mehr.“ Berger änderte das.

Auch persönliche Schicksale begegnen dem 38-Jährigen immer wieder und ziehen ihn in ihren Bann. Gerade erarbeitet er die Geschichte der ehemaligen Irrenanstalt Carlsfeld, die in der Nähe von Sandersdorf-Brehna liegt. Lange war das Ensemble auch ein Krankenhaus, im Zweiten Weltkrieg diente es als Reservelazarett. „Aus dieser Zeit habe ich Briefe in die Hände bekommen, die eindrücklich die damaligen Zustände zeigen.“ 

Soldaten schreiben darin über ihre Kameraden, die sie gerade erst auf dem Schlachtfeld verloren haben. Sie berichten über ihre Verletzungen, wie viele Finger ihnen an der Hand fehlen und welche Glieder sie nicht mehr bewegen können. „Für mich wird der Krieg durch solche Schilderungen viel greifbarer, als durch abstrakte Todeszahlen oder die Daten historischer Kampfhandlungen“, sagt Berger.

Durch seine Arbeit will der 38-Jährige zeigen, welche Auswirkungen Geschichte auf die Region hatte. Dass zum Beispiel die großen Kriege nichts waren, was nur weit weg stattgefunden hat. „Erst aus der Vergangenheit erschließt sich die Gegenwart“, da ist sich Benny Berger sicher. Und deswegen seien Ortschronisten und Geschichtsbegeisterte wie er unverzichtbar. (mz)

Die Geschichte der Nervenklinik Carlsfeld ist ein Projekt von Benny Berger.
Die Geschichte der Nervenklinik Carlsfeld ist ein Projekt von Benny Berger.
Andreas Stedtler