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Harter Brexit Harter Brexit: Die Furcht vor dem Chaos beim EU-Austritt der Briten wächst

Von Detlef Drewes 16.10.2018, 17:29
Wohin führt der Weg beim Brexit?
Wohin führt der Weg beim Brexit? AP

London/Brüssel. - Manchmal braucht es etwas Sichtbares, damit Dinge ins Bewusstsein dringen. Die Bauarbeiter an der Autobahn M26, die vom Londoner Ring bis nach Dover führt, sind so ein sichtbares Zeichen für viele Briten, für die der Brexit, der Austritt aus dem europäischen Staaten-Bündnis doch lange eher eine abstrakte Vision war. Seit dem vergangenen Wochenende haben dort die Vermessungsarbeiten begonnen, um aus der wichtigen Verkehrsroute für Waren aus Europa in die britische Hauptstadt im Notfall einen gigantischen Lastwagen-Parkplatz zu machen. Der Notfall, das wäre in diesem Fall ein Brexit ohne vorherigen Deal zwischen Brüssel und London. Es ist ein Notfall, der zunehmend wahrscheinlicher wird.

Vier Millionen Lastwagen setzen Jahr für Jahr von Dover nach Calais über den Ärmelkanal hinüber. Wird der Brexit wie geplant am 29. März 2019 Realität, überqueren etliche Tonnen Waren dort bald eine EU-Außengrenze. Ohne Zollvereinbarung wird es Zollkontrollen geben müssen. Allein eine zweiminütige Verzögerung der Zoll-Abfertigung pro Lastwagen würde im Kalkül der Planer zu einer 25 Kilometer langen Rückstau führen. Und das ist nach Ansicht der Wirtschaftsverbände eine arg optimistische Rechnung. Sie warnen vor 50 Kilometer langen Dauerstaus. Ganz abgesehen von zusätzlicher Umweltverschmutzung, enormen Staus und verstopften Landstraßen drohe im Hafen Dover „totales Chaos“, stöhnt der Verband der Fuhrunternehmer.

Es kursieren viele dieser Horroszenarien in diesen Tagen. Der Nationale Gesundheitsdienst befürchtet, dass er im Falle eines harten Brexit bald keine Ärzte aus Europa mehr rekrutieren kann, weil deren Qualifikationen keine Gültigkeit mehr hätten. Der gerade mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnete Wissenschaftler Sir Gregory Winter warnt, ein „No-Deal“-Brexit würde „die Forschung in Großbritannien abmurksen“. Prominente Musiker befürchten, dass „die mächtige Stimme“ der britischen Musikindustrie „verstummt“.

Es herrscht die Angst vor einer Finanzkrise

Die britische Handelskammer befürchtet ein Wirtschaftswachstum im „Schneckentempo“. Und beim Internationalen Währungsfonds ist die Befürchtung laut geworden, „ein chaotischer Brexit“ könne Auslöser für eine neue globale Finanzkrise sein. Am Sonnabend ist in London eine große Demonstration gegen die Brexit-Pläne geplant. Die bange Forderung: Es soll eine zweite Volksabstimmung geben, wenn klar ist, wie der Brexit genau aussehen soll.
Dies ist allerdings zur Zeit ungewisser denn je. Zwar wollten EU-Chefunterhändler Michel Barnier und der britische Brexit-Minister Dominic Raab eigentlich bereits am vergangenen Montag einen Vorschlag vorlegen, wie ein Austrittsvertrag aussehen soll, der alle künftigen Beziehungen zwischen dem Königreich und der EU regelt. Doch die Einigung ist geplatzt.
Nun wird Premierministerin Theresa May am Mittwoch ohne eine vorbereitete Einigung zum EU-Gipfel nach Brüssel reisen.

Dass dieses schicksalhafte Treffen tatsächlich mit einer Einigung endet, kann sich bisher kaum jemand vorstellen. May will auf Einladung von EU-Ratspräsident Donald Tusk noch einmal vor den 27 übrigen Stats- und Regierungschefs ihre Vorschläge für den Austrittsvertrag und die künftigen Beziehungen kurz erläutern. Man isst zu Abend – und May fährt wieder ab. Beratungen oder gar Verhandlungen soll es offensichtlich gar nicht mehr geben – auch weil Mays Koalition in London alle bisherigen Kompromissvorschläge ablehnt.

Und so wird das wahrscheinlicher, wovor Kritiker bereits seit ­ Monaten warnen. Weil sich London nicht einig ist, schlittert London in das gefürchtete No-Deal-Szenario. Liam Fox, Theresa Mays Außenhandels-Minister, hat schon vor einiger Zeit prophezeit, dass am Ende ein Austritt ganz ohne Vereinbarung „am wahrscheinlichsten“ sei. Zu Beginn dieser Woche, nach dem vorläufigen Scheitern der Verhandlungen, erklärte Arlene Foster, die Vorsitzende der nordirischen Unionisten, einen „No-Deal“-Ausgang des Brexit-Dramas sogar für „fast unvermeidlich“. Selbst EU-Ratspräsident Tusk warnte gestern, ein Brexit ohne Abkommen sei „wahrscheinlicher denn je“.

Wie soll man mit dem Sonderfall Nordirland umgehen?

Die Zeit drängt. Ein Ausstiegsvertrag muss noch vom Europäischen Parlament und den Volksvertretungen der Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Dafür sind einige Monate Vorlauf nötig, um den Termin am 29. März 2019 zu erreichen. Dann tritt das Königreich automatisch offiziell aus – mit oder ohne Deal. So legt es das Austrittsverfahren nach Artikel 50 der EU-Verträge fest. Eine Verlängerung der Verhandlungen wäre nicht so einfach möglich.

Kernproblem der Verhandler ist neben dem Zugang der Briten zum EU-Binnenmarkt noch immer die Nordirland-Frage – die anderen 90 Prozent sind ausgehandelt.
Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs verlässt die EU, was zu einer Grenze zur Republik Irland führt. Das Karfreitagsabkommen, das 1998 nach den jahrzehntelangen Unruhen beschlossen wurde, verbietet aber eine harte Grenze zwischen den beiden Staaten – und sowohl London als auch Brüssel sind sich grundsätzlich einig, dass sie den Friedensprozess in Nordirland nicht gefährden wollen.

Nordirische Partei DUP lehnt jede Sonderbehandlung ab

Die EU und May hatten deshalb eine Auffanglösung, den sogenannten Backstop, ausgehandelt, nach der Nordirland zunächst Teil der Zollunion mit der EU und als eine Art Sonderzone im EU-Regelwerk bliebe, bis eine bessere Lösung gefunden wird. Die nordirische Partei DUP – Koalitionspartner Mays in London – lehnt aber jegliche Regelung ab, wonach Nordirland anders behandelt würde als der Rest des Königreichs. Als Kompromiss war im Gespräch, dass das gesamte Land vorübergehend in einer Zollunion verbleiben und Nordirland zudem weiterhin am EU-Binnenmarkt für Güter teilnehmen könnte, damit der Warenverkehr auch nach dem Brexit reibungslos fließt. Das Problem ist: Für keines dieser Übergangslösungen hat May eine Mehrheit.

Für die Brexit-Hardliner in Mays konservativer Partei und ihr Koalitionspartner DUP wäre damit der Brexit ins Gegenteil verkehrt. Sie befürchten, dass die Zwischenlösung dazu führen könnte, ganz Großbritannien auf unabsehbare Zeit in einer Zollunion mit der EU zu halten. Statt wie erhofft neue Freiheiten im Handel zu erlangen, dürfte London dann weiterhin auf absehbare Zeit keine eigenständigen Handelsverträge mit Drittstaaten abschließen und müsste obendrein noch die EU-Regeln akzeptieren, ohne noch über sie mitbestimmen zu können. Ex-Außenminister Boris Johnson, einer der Brexit-Befürworter, erklärte, in diesem Szenario würde das Königreich gleichsam zur „Kolonie der EU“.

Den Brexiteers wie Johnson schwebt ein Freihandelsabkommen mit der EU vor. Das Vereinigte Königreich könnte demnach einen privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt behalten, aber gleichzeitig eigene Handelsverträge abschließen und müsste keine Zuwanderung von Arbeitskräften nach EU-Regeln mehr akzeptieren. In Brüssel und den europäischen Hauptstädten allerdings wird das seit Beginn der Verhandlungen vor 18 Monaten als „Rosinenpickerei“ abgelehnt. Eine gemeinsame Zollunion wäre Teil der künftigen Beziehungen. Zuvor aber muss es einen Austrittsvertrag geben, dann erst könne man sich des künftigen Verhältnisses annehmen, sagte ein Regierungsvertreter in Berlin.

Bundesregierung bereitet sich auf harten Brexit vor

Brüssel und Berlin wissen zwar um die innenpolitisch heikle Lage Mays – längst stehen Neuwahlen im Raum. Dies ändere jedoch nichts an der europäischen Position. „Ich sehe nicht, dass wir inhaltlich Zugeständnisse machen sollten“, sagte der Regierungsvertreter.

Die Bundesregierung arbeitet nun an Maßnahmen für den Fall, dass kein Austrittsvertrag zustande kommt. Am heutigen Mittwoch – zeitgleich zu Mays Auftritt in Brüssel – soll sich dazu eine interministerielle Arbeitsgruppe in Berlin treffen. Dabei geht es etwa um die Bereitstellung zusätzlicher Zollbeamter nach einem EU-Austritt und um die Klärung rechtlicher Fragen britischer Staatsangehöriger in Deutschland. Man sehe sich für den nicht mehr unwahrscheinlichen Fall der Fälle gut gewappnet, heißt es aus Berlin.

Gleichzeitig kamen aus Brüssel gestern vermittelnde Töne. Man werde die Gespräche mit London ruhig und ernsthaft weiter führen, sagte Barnier. Und auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker machte deutlich, dass die EU noch nicht aufgeben will. „Ich hätte gern ein Abkommen, weil kein Abkommen heißt: Katastrophe“, sagte Juncker.