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Hannelore Kraft Hannelore Kraft: Die Kümmerin und die Kohle

Von Karl Doemens 14.01.2015, 16:43

Düsseldorf - Es dauert eine Weile, bis sich Hannelore Kraft aus einem Gespräch mit Kollegen herausreißen kann. Dann steht sie plötzlich vor dem Bistrotisch in der Bundesrats-Cafeteria. „Auch ’n Kaffe?“, fragt sie im Ruhrpott-Dialekt. Noch ehe man die Situation erfasst, ist die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin zur Selbstbedienungstheke geeilt. Kurz darauf kehrt sie mit den Heißgetränken zurück und legt los. Die Themen: Pegida, ihre vorbeugende Politik, das Berliner Parkett.

Die sozialdemokratische Landesmutter sei amtsmüde, stichelt die Opposition daheim an Rhein und Ruhr seit einiger Zeit. Alles Quatsch, kontert sie. Ausgebrannt wirkt die 53-Jährige tatsächlich nicht. Eher trotzig kämpferisch. Vor ein paar Monaten hat sie sich selbst das Kraulen beigebracht, weil es ihr zu langweilig wurde, brustschwimmend ihre Bahnen zu ziehen. Tausend Meter schafft sie inzwischen locker.

Das stählt für den Ärger, den sie sich in Berlin mit ihrem Frontalangriff auf den innerstaatlichen Finanzausgleich eingehandelt hat: Sie will mehr Geld für Nordrhein-Westfalen behalten. „Die Hannelore macht jetzt den Seehofer“, prophezeit ein Berliner Genosse.

An diesem Donnerstag will sie im Düsseldorfer Landtag ihre Agenda für die verbleibenden zwei Jahre der Amtszeit vorstellen. Kraft muss politisch zurück in die Offensive. 2014 war für die Regierungschefin des bevölkerungsreichsten Bundeslandes ein Katastrophenjahr. Seit dem Sommer lief im Westen der Republik so ziemlich alles schief für Rot-Grün: Erst kippte das Landesverfassungsgericht die geplante Nullrunde für die Beamten. Die Ministerpräsidentin reagierte unter dem Druck der Schuldenbremse mit einer Haushaltssperre und ließ in der Staatskanzlei nur noch Leitungswasser ausschenken, was ihr vor allem Spott einbrachte. Die Versuche, die Etat-Löcher durch die Erhöhung der Grunderwerbsteuer und die Versteigerung zweier Warhol-Siebdrucke zu stopfen, kamen in der Öffentlichkeit kaum besser an.

Der Liebling der Parteitage

Dann reagierte Kraft während ihres Urlaubs deutlich verspätet auf ein Unwetter, das Münster verwüstet und zwei Menschenleben gefordert hatte. Im Herbst wurde bekannt, dass Angehörige eines privaten Wachdienstes Bewohner eines Flüchtlingsheims in Burbach misshandelt hatten. Schließlich agierte der Landes-Innenminister bei den Kölner Hooligan-Krawallen erschreckend hilflos. Kein Wunder, dass die nordrhein-westfälische SPD bei Umfragen inzwischen hinter der CDU rangiert – vier Punkte unter ihrem letzten Wahlergebnis.

„Umfragen sind immer nur Wasserstandsmeldungen“, wiegelt Hannelore Kraft ab. „Die Menschen sehen auch, dass wir gute Politik machen.“ Allzu viel Selbstkritik hört man von der Politikerin im Gespräch nicht. Stattdessen beklagt sie manche Skandalisierung durch die Opposition. Leitungswasser? Meine Güte! Ein Funkloch nach dem Unwetter? So was gibt es halt auf Brandenburger Seen. Die Prügelszenen aus dem Asylantenheim aber sind etwas anderes. Die prallen nicht an ihr ab. „Das hat mich richtig angefasst“, gesteht sie. Für die Bilder habe sie sich geschämt.

Scham und Betroffenheit – nicht jedem Politiker würde man solche Äußerungen abnehmen. Hannelore Kraft in der Regel schon. Glaubwürdigkeit ist das wichtigste Pfund der Frau aus Mülheim an der Ruhr. Bei der bewegenden Trauerrede für die Opfer der Love-Parade vor viereinhalb Jahren fand sie die richtigen Worte. Auch sonst wirkt die Tochter eines Straßenbahnfahrers und einer Schaffnerin authentisch.

Nicht hintenrum

Das liegt nicht nur am „dat“ und „wat“. Kraft bleibt Kraft – bei den Doppelkopfabenden mit Freunden im Reihenhäuschen, beim Ratequiz im Fernsehen, bei einer Hospitanz hinter der Fleischertheke oder im Sommerurlaub, den sie traditionell beim Landessportbund im Sauerland verbringt. „Ich bin sehr direkt. Ich bin nicht hintenherum“, sagt sie über sich. Das mögen die Menschen zwischen Kleve und Detmold.

Anfang Dezember in Berlin. Ein Abend im Chamäleon-Theater in den Hackeschen Höfen. Zwei Stunden lang lässt sich Kraft zu ihrem Privatleben befragen. Im Saal: gutbürgerliches, überwiegend weibliches Publikum mittleren Alters. Geladen hat die Frauenzeitschrift Brigitte, deren Chefredakteurin sich auf der Bühne demonstrativ wenig für Politik interessiert. Also plaudert man über Krafts Sohn Jan, der in Kanada studiert, ihren Mann, den sie an Weiberfastnacht 1992 kennenlernte und kurz darauf heiratete, und über Mutter Anni, die „mittags mit dem Hund geht und meine Sachen bügelt“. Kraft erzählt von ihrer Zöliakie, einer Gluten-Unverträglichkeit, die sie „immer dünner und schwächer“ werden ließ, bis sie selbst im Internet auf die Ursache stieß und die Ernährung umstellte: „Seitdem habe ich Power.“

Irgendwann wird ein Foto von ihrer kirchlichen Trauung an die Wand geworfen: Kraft mit wehendem weißem Schleier in der namibischen Wüste. Manches an diesem Abend wirkt so persönlich und anderes so banal, dass man sich fragt, ob man es wirklich wissen will. Erfahrene PR-Berater würden Politikern von derlei Selbstentblößungen abraten. Doch Kraft sagt: „Die Leute wollen nicht nur wissen, für welche Positionen ich stehe, sondern auch: Was ist das für ein Mensch?“. Natürlich habe man ihr empfohlen, kontrollierter aufzutreten, aber: „Nein, das bin ich nicht.“

Hannelore Krafts unprätentiöse Art hat ihr in der SPD viele Sympathien eingebracht. Erst mit 33 Jahren, damals noch Unternehmensberaterin, ist sie 1994 eingetreten. Nur 15 Jahre später wurde sie mit einem Traumergebnis von 90 Prozent zur stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt. Sie war der Liebling der Parteitage, galt als gefährlichste Konkurrentin von Angela Merkel und Kanzlerkandidatin der Herzen. Kurz nach der Bundestagswahl schien es gar, als könnte sie mit dem mächtigen Landesverband im Rücken gegen Parteichef Sigmar Gabriel und dessen großkoalitionäre Pläne putschen. Magazine freuten sich für 2017 schon auf das Duell „Mutti gegen Mutti“.

Doch dazu wird es nicht kommen. „Ich werde nie, nie, nie als Kanzlerkandidatin antreten“, hat Kraft im November 2013 in einer Sitzung der Düsseldorfer SPD-Landtagsfraktion gesagt: „Ich bleibe in Nordrhein-Westfalen. Darauf könnt Ihr Euch verlassen.“

Anwältin von NRW

Über die Hintergründe dieser Absage wurde viel spekuliert. Viel spricht dafür, dass Kraft schlichtweg ihre Grenzen kennt. Eine Kümmerin ist im Kohlenpott genau die richtige Identifikationsfigur. Im rauen Berlin werden andere Qualitäten verlangt. Zudem steht die nächste NRW-Wahl im Mai 2017 an – ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl. Hannelore Kraft könnte kaum glaubhaft zweimal kandidieren.

Ein wenig gefremdelt mit der Bundeshauptstadt hat sie schon immer. So hinterließ ein Berliner Auftritt im Juni 2010 bei älteren Beobachtern einen zwiespältigen Eindruck. Damals erklärte sie in kleiner Runde wortreich, weshalb sie nie eine von der Linkspartei geduldete Minderheitsregierung eingehen würde. Wenige Tage später wurde das erste derartige Bündnis in Düsseldorf verabredet. Ihr Plädoyer für eine schwarz-grüne Regierung im Bund („Es ist keine Schande, in die Opposition zu gehen“) nach der Septemberwahl 2013 irritierte manche, ebenso, dass sie sich im vergangenen November einen Tag nach den Mauerfall-Feiern beklagte, der Finanztransfer in den Osten sei „aus dem Gleichgewicht geraten“. Da fehlte ihr jedes Gespür für den historischen Augenblick.

Doch ihre Entscheidung gegen eine Kanzlerkandidatur verleiht auch Freiheit. Kraft kann nun ganz Anwältin ihres Bundeslandes sein. Bewusst hat sie die Koordination der Bund-Länder-Gespräche zur Neuordnung des Finanzausgleichs abgelehnt. Sie will nicht vermitteln. Sie will kämpfen. An jenem Novembertag in der Landesvertretung holt sie einen ganzen Stapel von Grafiken und Tabellen aus ihrer großen schwarzen Ledertasche. Drei Monate lang hat sie sich in die hoch komplizierte Thematik der staatlichen Einnahme- und Ausgabeströme eingearbeitet. Die Zahlen wirken eindeutig: Bei den Steuereinnahmen liegt NRW bundesweit auf dem fünften Platz. Nach seiner Einzahlung in den Umsatzsteuerausgleich der Länder hat es jedoch pro Kopf weniger Geld zur Verfügung als jedes andere Bundesland.

Gegen der Ruf der Schuldenkönigin

„Wir bleiben solidarisch“, kommentiert sie die Berechnungen ihres Finanzministers: „Aber wir wollen mehr behalten von dem, was bei uns erwirtschaftet wird.“ Natürlich sei im Osten noch eine Menge zu tun: „Aber in Nordrhein-Westfalen ist es auch höchste Zeit für Investitionen.“ Hannelore Kraft ist es leid, in den Medien immer wieder über bröckelnde Brücken an Rhein und Ruhr zu lesen. Sie hat die Nase voll davon, als „Schuldenkönigin“ verspottet zu werden und dieses Jahr erneut knapp zwei Milliarden Euro bei den Banken leihen zu müssen.

„Wir sind keine Bittsteller. Wir wollen nur das, was uns zusteht“, sagt sie. Intern hat sie erklärt, sie werde keinem Kompromiss ohne substanzielle Änderungen zustimmen. Massiver Streit mit den anderen Ländern ist vorprogrammiert. Die Opposition im Düsseldorfer Landtag befindet sich damit in einer Zwickmühle: Dass die Ministerpräsidentin versucht, mehr Geld für die heimische Infrastruktur locker zu machen, kann sie kaum kritisieren.

Für Hannelore Kraft geht es bei dem Poker um Milliarden – und um ihr politisches Schicksal. Wenn sie es in diesem Jahr nicht schafft, den Abwärtstrend der SPD in deren Kernland zu stoppen, ist ihre Wiederwahl ernsthaft gefährdet. Dann könnte sie die Früchte ihrer vorsorgenden Sozialpolitik nicht mehr ernten. Das aber will sie unbedingt: „Ich bin in die Politik gegangen, um die Welt ein Stück zu verbessern“, sagt sie selbstbewusst. „Dazu braucht man einen langen Atem.“