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Grüne Spitzenkandidatin Grüne Spitzenkandidatin: Steffi Lemke - Sturmerprobt

Von Hendrik Kranert-Rydzy 16.08.2013, 19:03
Steffi Lemke steht für mehr als Erneuerbare Energie - wie Strom aus Wind. Als Geschäftsführerin der Bundes-Grünen ist sie Gewährsfrau für etliche Wahlerfolge.
Steffi Lemke steht für mehr als Erneuerbare Energie - wie Strom aus Wind. Als Geschäftsführerin der Bundes-Grünen ist sie Gewährsfrau für etliche Wahlerfolge. Andreas Stedtler Lizenz

dessau-Rosslau/MZ - Die Sonne steht tief über der Elbe am Dessauer Leopoldshafen. Die Erlen glänzen golden und der Fluss schiebt sich meditativ vorbei. Idylle. Wenn nur das rasenmäherartige Heulen der Modellboote nicht wäre. Steffi Lemke zieht die Stirn etwas kraus. Der Ruderklub ist ihr Refugium, der Rückzugsraum vom Lärm und der Hektik des politischen Berlin. Ihr Lieblingsort. „Ich will hier niemals weg“, sagt Lemke und schaut versonnen übers Wasser.

Sie ist in Dessau geboren und aufgewachsen; hat nach 1990 erst im einzigen besetzten Haus der Stadt gelebt - Plumpsklo auf dem Hof inklusive. Sie wohnt noch immer in ihrem Kiez, wenn auch nebenan, im sanierten Altbau. Lemke kommt überpünktlich in Jeans und Sweatshirt zum Gespräch. Kein Wunder: „Sie ist sehr zuverlässig“, hat ein Mitruderer die politische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen angekündigt. Dabei ist Lemke hier nur „Steffi“, die man auf Wunsch in Ruhe lässt. Hier vom Klub bricht sie zu ihren Paddeltouren auf - oft allein, um den Kopf frei zu bekommen.

Zwei Tage zuvor, ein Kulturzentrum mitten im Berliner Multikulti-Stadtteil Kreuzberg. Viele Fahrräder, viele hippe Menschen oben im zweiten Stock. Das Buffet ist vegetarisch, die Getränke öko. Vor einem Dutzend Objektiven lächeln die Grünen-Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin telegen. Von einem überdimensionalen Wahlplakat und in echt. Grüner geht’s nicht. Die Partei präsentiert ihre Kampagne zur Bundestagswahl. Lemke hat den Kopf voll, sie wirkt nervös, bevor sie sich zwischen die beiden Spitzenkandidaten schiebt. Die zierliche, blonde Frau ist fast zwei Köpfe kleiner als Trittin.

Die Spannung weicht erst aus ihrem Gesicht und macht einem professionellen Lächeln Platz, als die Pressekonferenz beginnt. Ändern kann sie jetzt ohnehin nichts mehr. Später wird sie sagen, dass sie kein Lampenfieber kenne. Aber man ihr die Anspannung immer im Gesicht ablesen könne. Es ärgert sie ein bisschen. Lemke ist verantwortlich. Nicht nur für die Veranstaltung, nicht nur für die Werbeplakate. Sondern für den gesamten Wahlkampf. Und auch sonst für das Funktionieren der nicht gerade als pflegeleicht bekannten Partei. Steffi Lemke ist mit ihren 45 Jahren ein politisches Urgestein der Grünen und zudem die dienstälteste Generalsekretärin einer Bundespartei. Und jetzt ist sie auch noch Spitzenkandidatin für den Bundestag. Nicht für die Grünen in Berlin, sondern für ihre Partei in Sachsen-Anhalt.

Doch die Karriere ist eine, die auch Brüche enthält. Die Musterschülerin mit einem Dauerdurchschnitt von 1,0 wird 1984 für sie selbst höchst überraschend nicht zum Abitur zugelassen. Ob es an ihren Eltern - Mutter Lehrerin, Vater Chemieingenieur - liegt? Kindern aus Intellektuellen-Familien widerfährt das in der DDR regelmäßig. „Vielleicht lag es auch daran, dass ich den Mund irgendwann mal zu weit aufgemacht habe“, sagt Lemke, „der antiautoritäre Reflex liegt mir im Blut.“ Die 16-Jährige muss sich zur Facharbeiterin für Zootechnik ausbilden lassen. „Ich bin Melkerin“, erklärt sie einer Besuchergruppe in der Berliner Parteizentrale. Ein Hinweis der Agraringenieurin darauf, dass sie weiß, wovon sie spricht, wenn es um ein kerngrünes Thema geht - Massentierhaltung. Bis Lemke doch noch studieren kann, ist es ein mühevoller Weg: Sie ist erst drei Monate arbeitslos - etwas, was es offiziell in der DDR nicht gab - und trifft in dieser Zeit die ersten Bürgerrechtler. „Die DDR hat sich ihre Opposition mit Leuten wie mir selbst organisiert.“ In dieser Zeit lernt sie, sich durchzubeißen.

Lemke jobbt als Briefträgerin und holt abends ihr Abitur nach. Dazwischen kümmert sie sich mit Gleichgesinnten um Denkmalschutz und Stadtentwicklung. Lemke beginnt 1988 zwischen Berlin und Dessau zu pendeln - erst zum Studium, später in die Politik. Sie gründet die Grüne Partei der DDR mit - „etwas anderes, etwa die SPD, kam für mich nie in Frage“.

1994 - ihr Sohn ist gerade zwei Jahre alt - zieht sie erstmals in den Bundestag ein und wird 1998 über die Landesliste wiedergewählt. Sie wird parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion in jenem Jahr, in dem Gerhard Schröder (SPD) und Joschka Fischer (Grüne) die erste rot-grüne Bundesregierung bilden. Es werden entscheidende Jahre für Lemke.

Sie, die gegen den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo war, hat es bei der Entscheidung über den Afghanistan-Einsatz in der Hand, die Regierung zu kippen. „Ich habe mich gefragt, ob die Grünen noch meine politische Heimat sind“, erzählt Lemke. Eine ranghohe Funktionärin empfiehlt ihr, die Grünen doch besser zu verlassen. Sie entscheidet sich dagegen. Und auch gegen den Sturz Schröders. Lemke hält ihre Entscheidung, gegen den Afghanistan-Einsatz zu sein, nach wie vor für richtig. Eine Pazifistin? „Bin ich deswegen nicht. Ich bin für humanitäre Einsätze der Bundeswehr und für ein unnachsichtiges Vorgehen gegenüber Mördern und Terroristen.“ Lemke passt in keine Schublade. Sie, die einst als fundamentalistischstes Mitglied des Realo-Landesverbandes galt, findet das amüsant: „Ich bin politisch links-bürgerlich und manchmal auch konservativ.“ Und: „Die Linken bei den Grünen sind die wirklichen Realos.“ Dann, wenn es um die Bewahrung der Schöpfung geht; um Spielregeln für das Zusammenleben der Menschen. „Ich finde es auch wichtig, dass mein Sohn eine gute Ausbildung bekommt und es gute Schulen gibt.“ Ach ja, und Vegetarierin ist Lemke auch nicht. Wahlkampf verschlinge nicht nur Unmengen Zeit, sondern ebenso Energie. Folglich isst sie auch Fleisch - zur Not eine Bockwurst am Bahnhof.

2002 wird für Lemke ein Jahr voller Widersprüche. Sie hätte in diesem Jahr Parteivorsitzende werden können. Sie ist beliebt, weil pragmatisch, uneitel und offen. Doch sie will die Geschicke der Truppe lieber als politische Geschäftsführerin lenken - und wird gewählt. Lemke wird zur Erfolgsgarantin in Wahlkämpfen. Nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf Landesebene. Unter ihrer Führung gelang es den Grünen im vergangenen Jahr, alle Landesparlamente der Republik zu erobern.

Doch dass es dazu kam, hat mit einer bitteren Niederlage zu tun: Im Kampf um den Listenplatz eins zur Bundestagswahl 2002 verliert Lemke gegen ihre innerparteiliche Widersacherin, die Quedlinburgerin Undine Kurth. Lemke nennt das Ergebnis aus heutiger Sicht kühl eine „demokratische Entscheidung“. Doch die Narbe schmerzt noch immer, zumal es nicht die letzte Niederlage war. 2005 verzichtet sie auf die Kandidatur, doch 2009 tritt sie wieder gegen Kurth an - und verliert erneut. Lemke fühlt sich in ihrer Integrität verletzt und zieht sich aus Sachsen-Anhalt zurück. Erst zur Landtagswahl 2011 greift sie wieder ins Geschehen ein, die Grünen schaffen den Wiedereinzug nach 16 Jahren. Ein Jahr später dankt es ihr die Partei auf eigene Art - sie wählt sie nun doch zur Spitzenkandidatin.

Dass Lemke über die Liste ins Parlament einzieht, ist damit gewiss. Was danach wird, nicht: Ein Amt in einer Regierung schließt sie aus, ob sie Bundesgeschäftsführerin bleibt, lässt sie offen. Bundes- oder Fraktionsvorstand hätten auch ihre Reize, sagt sie. Fest steht, dass Dessau ihr Zuhause bleibt.