Grenzregion Grenzregion: Wunder von Löcknitz
Löcknitz/MZ. - Löcknitz hat Luxus-Probleme, von denen viele Kommunen nur träumen. Das Städtchen benötigt wegen seiner Geburtenrekorde einen neuen Kindergarten. Dabei ist eine Förderung von Neubauten nach dem Kita-Schließungsplan des Landes Mecklenburg-Vorpommern gar nicht vorgesehen. Und Löcknitzer Handwerker und Dienstleistungsfirmen suchen händeringend Arbeitskräfte. Im Ort entstehen neue Häuser. Es gibt drei große Supermärkte - und Pläne für einen vierten.
Einheimische sprechen von einer Aufbruchstimmung wie nach dem Fall der Mauer. Der Aufschwung ist ganz einfach zu erklären. Lothar Meistring kann das mit nur einem Satz: "Ohne die Polen wäre die Ecke toter als tot." Dann zeigt der Bürgermeister auf die Deutschlandkarte hinter seinem Schreibtisch, auf der Löcknitz gerade noch ganz rechts oben drauf ist. "Nur Szczecin, das ehemalige Stettin, ist die einzige wirkliche Großstadt, die direkt an der östlichen Grenze liegt. Und wir sind nur eine halbe Stunde vom Zentrum entfernt."
Der EU-Beitritt Polens befreite Löcknitz aus seiner Randlage, der Wegfall der Grenzkontrollen vor einem halben Jahr forcierte die Entwicklung. Dank der Kaufkraft der Nachbarn gibt es den Aufschwung, den im Armenhaus Vorpommern vor ein paar Jahren niemand mehr für möglich gehalten hätte. Die gut ausgebildeten Löcknitzer verließen in Scharen die Heimat. Vor drei Jahren wohnten nicht einmal mehr 3 000 Menschen hier, jetzt sind es 3 200, darunter 230 Polen.
Auch Jan Rybski hat sich in Löcknitz niedergelassen. Der 52-jährige Wirtschaftsberater entwickelt ein deutsch-polnisches Wohngebiet mit Ein- und Zweifamilienhäusern. Er profitiert vom Gefälle zwischen der prosperierenden Handelsstadt Stettin und dem strukturschwachen Kreis Uecker-Randow. Und Löcknitz hat seine Reize. Einst war Löcknitz ein bekannter Luftkurort, das Naherholungsgebiet für die Stettiner. Und heute versucht Rybski Familien aus der Großstadt in das Hinterland zu locken. Der Kaufmann vergleicht die deutsch-polnische Zusammenarbeit mit einer jungen Pflanze, die noch wachsen muss. "Wir schaffen hier erst einmal eine Basis", betont er.
Es gibt jedoch manche in Löcknitz, die möchten das, was während der vergangenen Jahre aufgebaut wurde, am liebsten sofort wieder abreißen. "Polen raus", stand kürzlich an der Grundschule. An den Laternen hingen vor dem Beitritt Polens zum Schengen-Raum Plakate der NPD. "Grenze dicht!", stand darauf und: "Der Pole stiehlt Deutschen die Arbeitsplätze". Auch Flugblätter ("Meistring verkauft uns an die Polen") verteilten die Rechtsradikalen, die fast 20 Prozent bei der letzten Wahl erzielten. "Der größte Blödsinn überhaupt", so der Bürgermeister.
Er erzählt von 14 polnischen Ärzten im Pasewalker Krankenhaus. "Ohne die hätten wir hier einen medizinischen Notstand." Der 59-jährige Meistring geht die mehr als 40 polnischen Firmen durch, die sich in Löcknitz niedergelassen haben. Dann zählt er die Jobs auf, die sie geschaffen haben. So habe eine Autowerkzeugbau-Firma gerade 16 Deutsche eingestellt. Doch Argumente beruhigen nicht immer. Für einige ist Polen noch immer das Land, aus dem insbesondere Putzfrauen, Erntehelfer und jene Einkäufer kommen, die zu DDR-Zeiten das ohnehin schon magere Kaufhallen-Angebot abräumten - solange die Grenze offen war.
Solche Probleme kennen die mehr als 400 Oberschüler der Europaschule in Löcknitz nicht. An dem deutsch-polnischen Modell-Gymnasium kann man das Abitur und die Matura ablegen. Die Polen lernen Deutsch, viele Deutsche lernen Polnisch. Zweisprachigkeit ist in der Grenzregion längst ein Schlüssel zum Erfolg. Der 17-jährige Karol Jagielski pendelt seit drei Jahren aus Szczecin; er hat den Aufwand noch keinen Tag bereut. Er lobt das gute Klima an der Schule. Später einmal will er Medizin in Berlin studieren.
"Es gibt bei uns sogar schon einige deutsch-polnische Pärchen", berichtet die 16-jährige Jessica Reinosch-Zahl. Viele der Oberschüler treffen sich am Wochenende in den Diskos, Bars und Kinos der nahen 400 000-Einwohner-Stadt. Für sie ist Löcknitz längst wieder das, was es bereits bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war - ein ruhiger Vorort von Szczecin.