Geschichte Geschichte: Rechtextremismus in der DDR
Halle (Saale)/MZ. - Er ist nicht mehr oft in Naumburg. Vor zwei Jahren hat er noch einmal ein paar seiner Bilder dort ausgestellt. Aber seit einem halben Jahr macht sich die Stadt wieder breit in Andreas Neumann-Nochten. Seit der Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds das Land aufschreckt, holen den Görlitzer Maler und Grafiker die Erinnerungen ein.
Ein knappes Vierteljahrhundert ist es her, da ist Neumann-Nochten in Naumburg von Neonazis überfallen worden. Am 13. April 1988 verprügeln drei Skinheads den Träger der jüdischen Kippa nachts auf offener Straße. Sie brüllen "Judensau" und "Kirchenschwein". Erst als eine Freundin der Schläger eingreift, lassen sie von ihm ab.
Die Geschichte von Andreas Neumann-Nochten ist auch eine Geschichte darüber, wie die DDR Rechtsextremisten für sich instrumentalisiert hat - jenes Land, in dem es offiziell doch gar keine Rechtsextremisten geben durfte. Und es ist eine Geschichte darüber, wie sich die Nazis von damals nach der Wende in die neue Bundesrepublik gerettet haben.
Der Angriff auf Neumann-Nochten ist kein Einzelfall. Ende 1987: Neonazis stürmen ein Punk-Konzert in der Ostberliner Zionskirche. Sie schlagen Gäste zusammen und brüllen "Juden raus aus deutschen Kirchen". März 1988: Sechs Jugendliche schänden den jüdischen Friedhof in Berlin-Prenzlauer Berg. Sie werfen Grabsteine um und beschmieren sie mit antisemitischen Parolen. Mai 1988: Bei Elsterwerda stoßen zwei Männer einen Afrikaner aus einem fahrenden Zug. Das Opfer wird schwer verletzt.
Es ist nicht so, dass Fälle wie diese nicht bekannt werden. Es gibt Meldungen in der Lokalpresse, ab und an befassen sich auch Zeitschriften wie "Das Magazin" mit dem Thema. Der Tenor ist stets der gleiche: Rechtsextreme Angriffe sind Einzelfälle, die Ideologie dahinter aus dem Westen importiert.
Gut christlich erzogen
Punks, Ausländer, die jüdische Kultur - das Feindbild ist klar. Bei Andreas Neumann-Nochten in Naumburg ist es die Kippa. Die Kopfbedeckung männlicher Juden trägt der heute 51-Jährige damals nicht aus religiösen Gründen. Er wächst in einem evangelischen Kinderheim auf, seine Eltern lernt er nie kennen. Erst als er 17 ist, klären ihn die Diakonissen im Heim über seine Herkunft auf - und darüber, dass seine Mutter Jüdin ist. Aber die Religion hat für ihn nie eine Rolle gespielt. Wie auch? "Ich bin gut christlich erzogen." Ab 1980 studiert er in Naumburg evangelische Theologie.
Dass er Mitte der 80er Jahre trotzdem zur Kippa greift, hat mit Protest gegen den in der DDR allgegenwärtigen Antisemitismus zu tun. Judenwitze sind an der Tagesordnung. Auf Rügen, wo er als Bausoldat im Offizierskasino Hauptmänner und Majore porträtieren muss. Oder auf der Baustelle neben seiner Wohnung in Naumburg. "Das hat mich entsetzt", sagt er, "das war Antisemitismus in Reinkultur." Befördert von einem Staat, der sich nach außen gerne antifaschistisch gibt, gegenüber Israel aber feindlich eingestellt ist. Ablesbar an Kommentaren, in denen 1982 während des Libanon-Krieges Israels Politik mit der des Nazi-Regimes gleichgesetzt wird. Die Kippa ist für den Theologie-Studenten auch Ausdruck seines Protests gegen das System. Das ihn, engagiert auch im Friedensarbeitskreis der Evangelischen Studentengemeinde, ohnehin im Visier hat.
Seit Ende 2011 die Mordserie der Zwickauer Neonazi-Zelle bekannt geworden ist, wird eine Frage immer wieder gestellt: Wie kann es passieren, dass drei junge Leute zu Terroristen werden? Andreas Neumann-Nochten hat einen kleinen Teil der Antwort darauf.
Der Überfall auf ihn wird nie aufgeklärt. Nach der Wende beginnt er nachzuforschen. Von einem Oberarzt erfährt er, dass Polizisten in Zivil im Krankenhaus seine Behandlungsunterlagen einkassierten. Der Mediziner erhielt die Anweisung: "Wenn Sie einer fragt: Das alles hat nie stattgefunden." Bei der Suche nach der Wahrheit kommt Neumann-Nochten schließlich der Zufall zu Hilfe: Ein Spätsommertag im Jahr 1990, Sonnenschein, blauer Himmel. Neumann-Nochten hat sich mit Freunden im Naumburger Ortsteil Henne verabredet, sie wollen durch die Weinberge wandern. Als er aus dem Auto steigt, trifft er unvermutet auf Matthias E., einen seiner einstigen Peiniger. E. und seine damaligen Mittäter waren schon ermittelt, ehe die Stasi die Polizei zurückpfiff.
E. erzählt erstaunlich offen: von der "Kameradschaft", zu der er und ein paar Kumpels sich vor der Wende zusammengeschlossen hatten, um "mit den ganzen Lügen der Kommunisten aufzuräumen". Und von einer Absprache mit der Stasi: Wegen diverser Vergehen wurde gegen die Gruppe schon ermittelt. Weil ihr aber auch der Neffe eines hohen SED-Funktionärs angehörte, schaltete sich der Geheimdienst ein: Die Stasi sicherte E. und seinen Kumpanen Straffreiheit zu, falls diese "ein paar Leute aus der kirchlichen Friedensbewegung aufmischen" würden. Leute wie Andreas Neumann-Nochten. Matthias E. erzählt noch mehr an jenem Spätsommertag. Davon, dass er jetzt in einer Art Wehrsportgruppe zu Hause sei - und mit ihm viele Kumpels aus der ehemaligen Gesellschaft für Sport und Technik "und die halbe FDJ-Kreisleitung".
Die Neonazis aus der DDR, sie machen in der neuen Bundesrepublik einfach weiter wie bisher - und mit ihnen einige, die auf ihrer Suche nach Orientierung in der rechtsextremen Ecke landen. Und weil ihnen die Kommunisten und die Kapitalisten als Feindbilder abhanden gekommen sind, konzentrieren sie sich auf andere - Migranten, Linksalternative Jugendliche, Andersdenkende.
Ab in den Giftschrank
Neonazis wie Matthias E. - in der DDR sind es erschreckend viele. Ende der 80er Jahre geht die Staatssicherheit von rund 1 000 gewaltbereiten Skinheads aus. Alle Sympathisanten eingerechnet, ist die Szene wesentlich stärker. Experten wie Bernd Wagner, heute Geschäftsführer der Gesellschaft Demokratische Kultur in Berlin, gehen schon damals von bis zu 15 000 Rechtsextremisten aus. Wagner arbeitet in den 80er Jahren bei der Kripo in Ostberlin, zeitweise ist er Chef der "Arbeitsgruppe Skinhead". Was er und seine Kollege herausfinden über Strukturen und Stärke der Szene, erscheint der Partei- und Staatsführung so brisant, dass sie die Ergebnisse in den Giftschrank sperrt.
Erst im März 1989 erscheint in der Untergrund-Zeitschrift "Kontext" die erste, zumindest halb-öffentliche, Analyse der Neonazi-Szene in der DDR: "Die neue alte Gefahr - Junge Faschisten in der DDR" von Konrad Weiß. Der Bürgerrechtler sieht die Ursachen für die erstarkende rechte Szene in der DDR tief in der Gesellschaft verankert: "Die grundsätzliche Bejahung von Gewalt und der Mangel an demokratischer Kultur", schreibt er, "haben den Propagandisten der neuen faschistischen Bewegung ein leicht zu beackerndes Feld bereitet." Junge Faschisten seien "das Produkt unserer Gesellschaft". Roland Jahn, der Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde, hat es in einem MZ-Interview kürzlich auf den Punkt gebracht: "Die Denkmuster der offiziellen Propaganda - der Militarismus, das Unterdrücken anderer Meinungen - waren bei den Neonazis genauso da."
Denkmuster, die in der rechten Szene die Wende überdauert haben. All das erklärt noch nicht, warum drei junge Leute aus Jena nicht nur anfällig für rechtsextremes Gedankengut wurden und mordeten. Klar aber ist: Der Boden dafür war bereitet.
Lange hat das niemand wahrhaben wollen.