Geschichte Geschichte: «Leben in geteilter Erinnerung»

HALLE/BERLIN/MZ. - Herr Gauck, warum findet die Debatte, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen ist, zu keinem Abschluss?
Gauck: Das liegt an der unterschiedlichen Art des Erinnerns. Das war auch nach dem Zweiten Weltkrieg schon so und das gibt es auch in anderen Ländern, in denen eine Diktatur geherrscht hat, etwa in Chile. Dort gibt es Menschen, die sagen: Es war nicht alles schlecht in dieser Zeit. Und andere sagen: Es ist Unrecht geschehen, wir wollen die Diktatur nie wieder haben.
Die DDR hat immerhin 40 Jahre lang existiert, zwei Generationen - viel länger, als das Nazireich. In dieser Zeit sind ganze Milieus aufgestiegen in Parteien, Verwaltung, Militär, Polizei und Stasi. Angehörige dieser Milieus erinnern sich oft selektiv nur an das, was angenehm war und blenden aus, was die Diktatur zur Diktatur gemacht hat. In dieser Phase befinden wir uns.
Klar gefragt: Die DDR war ein Unrechtsstaat?
Gauck: Man muss klären, in welchem Zusammenhang der Begriff gebraucht wird - in einer politischen oder einer wissenschaftlichen Debatte. Politisch gesehen muss man sagen: Der Begriff trifft zu, weil es in der DDR keine Unabhängigkeit der Justiz gab, keine Gewaltenteilung. Es gab keine Herrschaft des Rechts, weil eine Instanz wie die herrschende SED in den Bereich des Rechts eingreifen konnte. Nicht jedermann konnte das, aber die zentralen Führungsinstanzen der Partei sehr wohl.
Zudem war es unmöglich, staatliches Handeln auf dem Gerichtsweg anzugreifen, man hätte dazu Verwaltungsgerichte gebraucht. Aber die gab es ebensowenig wie ein Verfassungsgericht. Man konnte allerdings, wie im Feudalismus, Eingaben an die Herrschenden richten und appellieren: Hier geschieht Unrecht. Und dann hatte man vielleicht Glück. Oder eben nicht. Das spricht alles dafür, das Regime der DDR ein Unrechtsregime zu nennen, auch wenn es im Land zum Beispiel ein Zivil- und ein Verkehrsrecht gegeben hat, was die Verteidiger der DDR immer wieder anführen.
Heute finden sich auch Fürsprecher der DDR, die das früher nicht gewesen sind.
Gauck: Man wird diese Irritation nicht vollständig verhindern können. Es fällt vielen Menschen schwer, zwischen einem politischen Urteil und der Bewertung des eigenen Lebens in diesem System zu trennen. Daher rührt es, dass heute viele Leute positiv zur DDR stehen - vielleicht mehr als zu Zeiten, da sie noch existierte. Das hat auch damit zu tun, dass die Deutschen in einer geteilten Erinnerung leben, vier Fünftel der Bundesbürger haben die DDR nicht erlebt, also auch der größte Teil der Teilnehmer an der Debatte um den Unrechtsstaat. Und der kleinere Teil, die ehemaligen DDR-Bürger, will sich nicht gern beurteilen lassen von anderen, die ihre Erfahrung nicht haben.
Das ist berechtigt und auch nicht. Denn in der politischen Debatte ist es grundsätzlich zulässig, sich Urteile über Länder und Situationen zu erlauben, die man nicht aus eigener Anschauung kennt.
Und wie lösen wir das Problem?
Gauck: Für die Ostdeutschen gilt, dass sie lernen müssen, auch den Schmerz beim Erinnern zuzulassen. Man braucht Zeit, um eigene Schuld, eigenes Versagen anerkennen zu können. Nostalgie hingegen kommt ohne Trauer aus, ohne Scham. Es gibt immer zwei Arten des Erinnerns: Eine, die es sich leicht macht. Und eine, die ans Eingemachte geht.
Dabei ist es nicht immer leicht, etwa den Nachgeborenen und den Westdeutschen zu erklären, warum etwas so war, wie es gewesen ist. Dann sagt man den Westdeutschen auch, sie hätten sich in gleicher Lage genauso verhalten. Ich bin mir im Übrigen sicher, dass es so gewesen wäre.
Es herrscht auch Enttäuschung im Osten, dass das "gelobte Land" in Wirklichkeit nicht so aussieht, wie wir es aus dem Fernsehen kannten.
Gauck: Wenn man anfängt, ein freier Bürger in einem freien Land zu sein, hat man große Erwartungen. Das ist so wie in der Phase der Verliebtheit, in der man den begehrten Menschen idealisiert. Hat man ihn dann bekommen, werden die Sehnsuchtsbilder von der Realität relativiert. So ähnlich ist das auch bei den politischen Verhältnissen. Wenn man von der Freiheit träumt, scheint sie perfekt zu sein. Dann sieht man: Perfekt ist diese offene Gesellschaft keineswegs. Man kann sehr viel gewinnen, aber auch verlieren. Und man muss sich selber einbringen. Das ist mit Anstrengung verbunden.
Viele Menschen wollen von dem Thema nichts mehr hören, gerade auch jüngere.
Gauck: Wir haben in der eigenen Geschichte gesehen, dass es nicht gut ist, wenn Dinge abgekapselt werden. Weil wir wussten, dass Wegsehen und Vertuschen nicht hilft, haben wir 1990 so schnell die Stasi-Akten geöffnet.
Auch im Westen, in der Adenauer-Zeit, ist es ja so gewesen, dass die Menschen sich lieber nicht erinnern wollten. Erst ihre Kinder, die sogenannten 68er, haben das Thema dann in den Vordergrund geholt. Und die Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Schuld erstreckt sich bis in die Gegenwart.
Also müssen wir dafür sorgen, dass die jüngere deutsche Geschichte an den Schulen entsprechend berücksichtigt wird, aber auch bedenken wie stark gegenwarts- und zukunftsorientiert die Jugend immer ist. Was aber das Erinnern betrifft: Je trotziger die einen schweigen, umso hartnäckiger werden die anderen fragen.