Geschichte Geschichte: Der Rotarmist auf dem Reichstag ist tot

Moskau/Berlin/dpa. - Der Rotarmist Michail Minin ließ wenige Tage vorder Kapitulation der Deutschen die rote Fahne auf dem Dach desReichstages wehen. Das später nachgestellte Foto vom Hissen derFlagge auf dem statuengesäumten Sims des Gebäudes ging um die Welt.Als 85-Jähriger ist Minin nun in seiner Heimat Russland gestorben.Ihm war über Jahrzehnte die Heldentat abgesprochen worden, als Ersterdie «Fahne des Sieges» gehisst zu haben. Um den historischen Momentin jenen letzten Kriegstagen 1945 ranken sich Dutzende Versionen.
Jahrzehntelang stritten die Historiker über den Ablauf derEreignisse im noch umkämpften Herzen Berlins. Die Sowjetlegendewollte es, dass die Unteroffiziere Michail Jegorow und MelitonKantaria in den Morgenstunden des 1. Mai auf dem Dach zur Tatschritten. Diese Version soll dem Sowjetdiktator Stalin besonders gutgefallen haben. Zum einen, weil Kantaria ein georgischer Landsmannwar, und zum anderen, weil die Fahne ausgerechnet an dem derSowjetunion heiligen «Tag der Arbeit» wehte.
Mehr als 60 Jahre später hält Arkadi Dementjew vom Zentralmuseumder russischen Streitkräfte in Moskau dagegen, dass Feldwebel Mininmit seinen Kameraden bereits am Abend des 30. April das 24 Meter hoheFlachdach des Reichstags erklomm. «Fünf Stunden vor den anderenhissten sie dort ihre auf die Schnelle gebastelte Fahne», berichteteder Historiker der Moskauer Tageszeitung «Komsomolskaja Prawda»(Freitagausgabe). Hammer und Sichel, die auf dem berühmten Foto gutsichtbar über ruinierten Straßenzügen wehen, dürften auf derOriginalflagge gefehlt haben.
Um die ohne Minin entstandene Schwarz-Weiß-Aufnahme derhistorischen Tat ranken sich Anekdoten. Der KriegsberichterstatterJewgeni Chaldej dokumentiert darauf, wie zwei andere sowjetischeSoldaten eine große Flagge mit Hammer und Sichel an einer Figurbefestigen. Im Hintergrund sind ausgebombte Häuser und ein vom Qualmverdunkelter Horizont zu sehen.
Zurück in Moskau war Chaldej gezwungen, ein peinliches Detail aufdem Foto zu retuschieren. Der Soldat, der am unteren Bildrand seinenKameraden festhält, trägt an beiden Handgelenken eine Armbanduhr. AufOriginalabzügen ist dies eindeutig zu erkennen. Da es nicht seinkonnte, dass ein Soldat der ruhmreichen Sowjetarmee plündert, wurdedie Uhr am rechten Arm nachträglich entfernt.
Minin hatte sich 1941 als Freiwilliger zur Front gemeldet undblieb sein Leben lang der Armee treu. Nach dem Krieg absolvierte derhochdekorierte Veteran eine Militärhochschule und diente bis 1969 inden Streitkräften. Nach dem Ende des Kalten Krieges kehrte Minineinmal zurück nach Berlin, um sich mit ehemaligen Wehrmachtssoldatenzu treffen, die den Reichstag gegen die übermächtige Rote Armee zuverteidigen versucht hatten.
In der Heimatstadt Pskow bleibt Minin den Kameraden nicht nur alsder Held vom Berliner Reichstag in Erinnerung. Er sei ein einfacher,gutmütiger und gebildeter Mann gewesen, sagte VeteranenfunktionärGennadi Merkurjew in der Stadt an der Grenze zu Estland.
Minin überlebte seine Armeekameraden vom 176. Regiment und denFotografen um etliche Jahre. Die Moskauer Tageszeitung «Gaseta» ehrteMinin daher mit der Überschrift: «Er war der letzte Fahnenträger.»