Flüchtlingssituation in Wegscheid Flüchtlingssituation in Wegscheid: Wo sich Hilfsbereitschaft und Stammtischparolen treffen

Passau - In der noch immer wärmenden Mittagssonne kommt fast so etwas wie Picknick-Atmosphäre auf. Die Landschaft ist wie gemalt, satte grüne Wiesen, sanfte Hügel, dazwischen Waldstücke, in der Luft liegt der Geruch von Kühen und Mist.
Neben dem riesigen, 1000 Quadratmeter großen Zelt, das die österreichischen Behörden in aller Eile, als Reaktion auf bayerischen Druck, aufgestellt haben, haben sich Flüchtlingsfamilien auf der Wiese niedergelassen, auf Isomatten, dünnen Decken oder Plastiktüten. Manche versuchen es sich auf Resten herumliegender Kartons ein wenig bequem zu machen. Sie wirken übernächtigt und geschafft von ihrer langen Reise über die Balkanroute, und die Ungewissheit über ihre Zukunft steht ihnen ins Gesicht geschrieben.
Halb im Liegen löffeln die in der Nacht am Grenzübergang Hanging/Wegscheid angekommenen Flüchtlinge – überwiegend Syrer und Afghanen – die Gemüsesuppe aus der Kantine des Spitals in Rohrbach. Dazu gibt es Toast mit Geflügelwurst und Tee. Geduldig wartet eine lange Schlange vor der Essensausgabe. An einem Weidezaun baumeln Handtücher und Wäschestücke zum Trocknen, eine junge Frau wäscht ihre Füße mit Mineralwasser.
Die erzwungene Rast, von der niemand weiß, wie lange sie dauert, ist für die Menschen eine willkommene Verschnaufpause vor der letzten Etappe ihres langen Trecks ins vermeintlich gelobte Land. Von den diplomatischen Querelen, die ihren Höhepunkt erreichten, als der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) dem Nachbarland markig „staatlich organisiertes Schleusertum“ vorgeworfen hatte, ahnen sie nichts. Und sie hören auch nicht, wie die Kellnerin im Dirndl sagt, der „Einfall der Horden Fremder“ erinnere sie unwillkürlich an den Alm-Abtrieb.
Pioniere des österreichischen Bundesheeres bauen einen Container auf, der als Kleiderkammer dienen soll. Die Nächte sind mit Werten knapp über null Grad schon jetzt empfindlich kalt. Ein Paschtune mit gegerbter Haut bestaunt die Hebetechnik, mit der das Gebäude aus Fertigteilen vom Lkw heruntergehievt wird, ein vierjähriger Knirps hat den Abzug des ausgeschalteten Heizlüfters als eine Art Basketballtor entdeckt und versucht seinen Luftballon hinein zu bugsieren. Immer wieder treffen neue Busse mit Neuankömmlingen ein.
Lesen Sie im nächsten Abschnitt, wie der „Schmugglersteig“ zum Hot Spot für Schaulustige wird.
„Danke für Ihr Vertrauen“, steht auf einem Zettel an der Windschutzscheibe, ein Luxusliner aus der Steiermark wirbt mit dem Slogan „solutions for motion“, Lösungen für Beweglichkeit. Das schöne Wetter lockt Radfahrer auf ihrer Allerheiligentour und Wanderer auf dem „Schmugglersteig“ als Schaulustige an diesen Hot Spot, der er zwar nicht nach der offiziellen EU-Terminologie ist, wohl aber in der Praxis. Einige zücken etwas verschämt ihre Smartphones. Der Katastrophen-Tourismus hat ein neues Ziel. „Bloß ekelhaft“, kommentiert ein junger Rotkreuzhelfer.
Die scheinbare Idylle tagsüber verstellt den Blick für den Ernst der Situation. Im Schnitt treffen hier im Laufe von 24 Stunden weiter zwischen 40 und 50 Busse ein, die die Menschen von der slowenischen Grenze bei Spielfeld quer durch Österreich befördern. „Wir haben durchgehend geöffnet“, beschreibt hundert Meter weiter ein Einsatzleiter der Bundespolizei die Lage. Alles paletti, sagt er noch, die Informationspolitik der „anderen Seite“ habe sich spürbar verbessert.
Bis Freitag mussten die Neuankömmlinge dort, wo jetzt das notfalls bis zu tausend Menschen ein Notquartier bietende Zelt steht, ungeschützt im Freien campieren. Aussteigen müssen die Menschen hier aus den österreichischen oder slowenischen Bussen nach wie vor und werden dann, sobald es die Kapazitäten zulassen, in 50er-Gruppen in den deutschen Bus umsteigen.
Es fehlt an Helfern
Am Waldrand wartet Franz Richartz mit seinem Bus, den er sonst an die Costa Brava oder nach Kroatien lenkt. Er will nicht bestreiten, dass die Flüchtlings-Transfers für viele regionale Unternehmen ein schönes Zusatzgeschäft ist, „aber fragen Sie mich nicht, wie es hinterher hier drinnen aussieht“. Noch am liebsten nimmt er Syrer an Bord, die haben Manieren und sind bescheiden“. Und die anderen? „Darüber schweigt des Sängers Höflichkeit“, knurrt der gebürtige Rheinländer, um dann doch zu resümieren: „Alles Buschräuber.“
Genau auf der Grenzlinie blockieren je ein österreichischer und ein deutscher Mannschaftswagen die Durchfahrt. Auch wenn die aktuellen Friktionen zwischen zwischen „Ösis“ und „Piefkes“ beigelegt zu sein scheinen, die Lage bleibt brisant. Aber wie überall, wo Flüchtlinge versorgt werden müssen, fehlt es auch hier nicht an engagierten Helfern.
Hans Kienböck ist an diesem Abend nach längerer Pause zum ersten Mal hier. Der Arzt am Wegscheider Krankenhaus sagt, man habe ein schlechtes Gewissen, „wenn man drei Kilometer entfernt wohnt und nichts tut“. Die Stimmung in der Grenzgemeinde beschreibt er als durchwachsen. „Diffuse Ängste vor der schieren Masse, Sie wissen schon. Aber alle die, mal selbst mit angepackt haben, ändern ihre Meinung.“
Im nächsten Abschnitt: Zwischendurch geht es auch um Politik, geklautes ollz und das kommende „Kneipen-Festival“
Zwei Dolmetscher, die außer Arabisch auch Farsi und Paschtu sprechen, sind mit Megafonen im warmen Zelt im Einsatz, und verteilen an die Menschen Bändchen mit ihrer Busnummer. Später wird es andere Kennzeichnungen geben, um die Essensversorgung besser steuern zu können.
„Sozusagen all inklusive“, scherzt der 22-jährige Rudi Söllner, einer der freiwilligen Helfer, die fast jede Nacht zur Stelle sind. In der Stockschützenhalle Kollerschlag haben sie Suchbilder von vermissten Angehörigen aufgehängt, am Fenster der verwaisten Schiedsrichterkabine zum Beispiel.
Jenseits der praktischen Fragen geht es zwischendurch auch um Politik. Dass Seehofers populistische Forderung nach Transitzonen aberwitzig sei und eine Beruhigungspille fürs Wahlvolk ebenso wie der „Spleen mit Grenzzäunen, den unsere Innenministerin verfolgt“.
Ganz besonders schlecht sind Söllner und seine Rotkreuz-Kameraden aber auf den deutschen Innenminister Thomas de Maizière zu sprechen: Von den Afghanen zu verlangen, am Hindukusch zu bleiben, weil dort die Bundeswehr für Sicherheit sorge, das sei schon eine „sehr steile These“.
„Irgendwas muss passieren“
Exakt dort, wo bis zum Inkrafttreten des Schengen-Abkommens Grenzkontrollen stattfanden, steht auf bayerscher Seite die „Pizzeria Oklahoma“. Werner Gell, der stämmige Wirt, war eigentlich Bankkaufmann, und dann, erzählt er leutselig, „habe ich mir als Vorsitzender des hiesigen Country Clubs einen alten Traum erfüllt, das überflüssige gewordene Häuschen gekauft und einen Western Saloon eingerichtet.“
Als Wegscheid sich zu einem der Endpunkte des Flüchtlingsstroms zu entwickeln begann, roch Gell Lunte und bot der Bundespolizei eine „Nutzungsvereinbarung“ an, bislang ohne Ergebnis. „Die wollen die Hütte irgendwann von dir zurückkaufen“, hätten ihn seine Freunde bestärkt, berichtet Gell, während er eine Pizza Hawaii in den Ofen schiebt.
Lesen Sie im nächsten Abschnitt, wie der Stammtisch über die Flüchtlinge denkt.
Und was denkt er über die Menschen, die nicht nur am Stammtisch Invasoren genannt werden? Wenn er nicht da sei, werde „die ganze Umgebung vollgeschissen“, und bei seinem vor dem Haus gestapeltem Brennholz hätten sich die Flüchtlinge auch schon bedient. „Im Wilden Westen hätte man die“, sagt der Mann augenzwinkernd, „als Strauchdiebe über den Haufen geknallt.“ Irgendwas müsse passieren, findet Gell, und die Männer an der Theke nicken. Deshalb auch seine Idee mit seinem kleinen Anwesen und der Bundespolizei. „Ich habe schließlich noch die ganze Infrastruktur, einschließlich Haftzellen.“
Auftritt von Nena
Vor der Drei-Länder-Halle im Passauer Messepark unterdessen das inzwischen vertraute Bild: Busse bringen Flüchtlinge von der Grenzstation Wegscheid zur ersten Übernachtung auf deutschem Boden. Es gibt Stempel mit dem Filzstift auf den Arm ,wie sie Türsteher vor Diskotheken verteilen. Dieser Ort ist insofern eine ganz spezielle Location, als sich hier beim politischen Aschermittwoch die CSU-Granden für ihre gern auch rustikalen Sprüche vom Volk feiern lassen.
Am nächsten Wochenende muss die Halle für ein „Kneipen-Festival“ geräumt werden , am 19. November für einen Auftritt von Nena. Natürlich nur vorübergehend, danach wird sie wieder „von Flüchtlingen bespielt“, wie der sächsische Bundespolizist an der Einlasskontrolle sagt.
Er erzählt von österreichischen Busfahrern, die in Eigeninitiative bis auf den Parkplatz vor der Drei-Länder-Halle gefahren sind, vorübergehend festgenommen worden seien und sich eine Anzeige eingehandelt hätten wegen Beihilfe zum Menschenschmuggel.
Auf dem Weg zu ihrem Sonderzug nach München, dessen „Drehkreuz-Funktion“ zur Entlastung von Passau reaktiviert werden soll, werden die von ihren Strapazen gezeichneten Flüchtlinge zum ersten Mal mit der Wirklichkeit ihres Gastlandes konfrontiert. Sie ziehen stumm an krakeelenden Männern mit Bierflaschen in der Hand vorbei und an grell bemalten Jugendlichen auf dem Weg zu irgendeiner Halloween-Party.
Nach inszeniertem Grusel ist den Leuten mit ihren übermüdeten Kindern auf dem Arm nicht zumute. Vielleicht im nächsten Jahr um diese Zeit irgendwo in Deutschland.


