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Flüchtlingspolitik Flüchtlingspolitik: Mehr als 30 CDU-Politiker fordern per Brief Kurswechsel von Angela Merkel

Von Markus Decker 07.10.2015, 17:07

Berlin - Wie sich die Worte ähneln. „Das ist grottenfalsch“, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), als in der vorletzten Woche der Eindruck entstand, er habe Kanzlerin Angela Merkel kritisieren wollen – mit dem Hinweis, sie habe Unordnung erzeugt mit der Entscheidung, Flüchtlinge aus Ungarn ins Land zu lassen. „Das ist völliger Quatsch“, erklärte der von Merkel geschätzte Vizeregierungssprecher Georg Streiter am Mittwoch mit Blick auf den aufkeimenden Verdacht, Merkel habe de Maizière entmachtet – mit der Entscheidung, die Zuständigkeit für die Flüchtlingspolitik im Kanzleramt zu konzentrieren und sie damit dem Innenminister teilweise zu entreißen. Die Opposition hatte von Entmachtung gesprochen.

Rechtslastige AfD auf sieben Prozent geklettert

Im Verhältnis Merkels zu de Maizière hat sich zuletzt einiges verändert. Auch sonst ist in den letzten 24 Stunden allerlei passiert. So haben mehr als 30 CDU-Politiker der Landes- und Kreisebene einen Brief an die Kanzlerin geschrieben, indem sie sie zu einem Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik auffordern. „Die gegenwärtig praktizierte »Politik der offenen Grenzen« entspricht weder dem europäischen oder deutschen Recht, noch steht sie im Einklang mit dem Programm der CDU“, heißt es in dem Brief, dessen Autoren Merkel bitten, „zeitnah Maßnahmen zu ergreifen, die den gegenwärtigen Flüchtlingszustrom zügig und effektiv verringern“. Zudem ist die rechtslastige AfD in einer Forsa-Umfrage auf sieben Prozent geklettert, während die Union um einen Prozentpunkt fällt. Das alles sind Indizien für eine sich weiter ins Politische ausdehnende Flüchtlingskrise, die auch die Beziehung Merkels zu de Maizière längst nicht mehr unberührt lässt.

Die beiden haben sich zu Beginn der 1990er Jahre kennen gelernt, als sie – fast gleichaltrig und aus verschiedenen Richtungen und Biografien kommend – im Zuge der Wiedervereinigung in die Politik einstiegen. Der Vetter des letzten DDR-Ministerpräsidenten, Lothar de Maizière, arbeitete in Berlin, in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen, bevor Merkel ihn 2005 zum Chef des Bundeskanzleramtes machte.

Belastung der politischen Freundschaft

Er dankte es ihr mit bedingungsloser Loyalität. Wie weit diese ging, zeigte sich, als de Maizière den ehemaligen Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) attackierte, als der sich 2012 gegen seinen Rausschmiss durch Merkel wehrte. „Wenn die Bundeskanzlerin einen Minister um seinen Rücktritt bittet, dann hat man dem Folge zu leisten“, erklärte ihr Gefolgsmann und fügte einen Satz hinzu, der heute auf ihn zurückfällt: „Ein Minister braucht über seine Person hinaus eine bestimmte Autorität, um Dinge zu bewirken.“0

2013 folgte die erste Belastung der politischen Freundschaft, als Merkel de Maizière das Verteidigungsressort nahm, um es der drängenden Ursula von der Leyen zu geben. Er fügte sich, wenn auch unwillig. De Maizière hatte zuvor in der Affäre um die Drohne Euro-Hawk keine gute Figur gemacht. Zuletzt verlor er in der Flüchtlingskrise zeitweilig die Übersicht und brüskierte schließlich die Regierungschefin, als er in einer ZDF-Sendung erklärte: „Außer Kontrolle geraten ist es mit der Entscheidung, dass man aus Ungarn die Menschen nach Deutschland holt.“ Mit Merkels Entscheidung also.

Hinterher ruderte de Maizière zurück mit den Worten, die entstandene Unordnung sei unvermeidlich gewesen. Zugleich wirkte die de facto-Absetzung des Präsidenten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Manfred Schmidt, wie ein Eingeständnis eigener Schwäche. In diesem Kontext ist jedenfalls die Entscheidung zu sehen, die Zuständigkeit für die Flüchtlingspolitik bei Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) zu bündeln.

Es herrscht Ausnahmezustand

Vizeregierungssprecher Streiter bemerkte zwar, das Kanzleramt sei grundsätzlich auch bei anderen Themen für die politische Gesamtkoordinierung verantwortlich. Das Innenressort behalte die operative Koordinierung und leite weiterhin den dort angesiedelten Lenkungsausschuss. Die Runde habe bislang auf Staatssekretärsebene gearbeitet und werde fortan gestärkt durch zusätzliches Personal aus den verschiedenen Ministerien. „Das ist eine Stärkung und keine Schwächung“, behauptete Streiter.

De Maizière betonte, das alles sei mit ihm abgesprochen und er mit allem einverstanden. Freilich hätte das Kanzleramt diese Koordinierungsfunktion durchaus geräuschloser und ohne Kabinettsbeschluss übernehmen können. Zu de Maizières Gunsten lässt sich immerhin festhalten, dass das Problem „hier ein bisschen größer“ (Streiter) ist als sonst und Merkel unter dem Druck des CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer und sich verschlechternder Umfragen selbst um Autorität ringt. Bisher waren die Kanzlerin und ihr Innenminister wie zwei Bojen, die aneinander gekettet sind. Nun stoßen sie einander im Zweifel auch mal ab. Es herrscht Ausnahmezustand.

Nach dem viel beachteten Röttgen-Rauswurf sagte Thomas de Maizière übrigens mit voller Überzeugung: „Jeder, der ein solches Amt innehat, weiß in einer Demokratie: Das ist nur ein Amt auf Zeit. Das erzieht hoffentlich alle Beteiligten zu einer gewissen Demut.“ Sätze, die rückblickend prophetisch klingen.