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Flüchtlingsgipfel in Brüssel Flüchtlingsgipfel in Brüssel: Was der EU-Türkei-Plan für Europa bedeutet

Von Peter Riesbeck 08.03.2016, 16:20
EU-Staats - und Regierungschefs haben sich am Montag mit dem türkischen Premierminister Davutoglu.
EU-Staats - und Regierungschefs haben sich am Montag mit dem türkischen Premierminister Davutoglu. AP POOL

Brüssel - EU-Ratspräsident Donald Tusk hat das Vorhaben am Dienstag nochmal im Europaparlament gelobt. Andere waren weniger optimistisch. Von einem „Gipfel der Abschottung“ spricht die Grünen-Europaabgeordnete Ska Keller.

Gabi Zimmer, Linken-Fraktionsvorsitzende im Europaparlament spricht von einem „vergifteten Angebot“ der Türkei. Die EU könne nicht einfach ihre Verantwortung für die Bewältigung der Flüchtlingskrise an die Türkei abschieben, so Zimmer.

Die Regierungschef der EU hatten sich zuvor mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu auf einen Deal verständigt. Die Türkei nimmt alle Flüchtlinge, die über ihr Gebiet nach Griechenland einreisen, zurück.

Im Gegenzug verpflichtet sich die EU, syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aus der Türkei aufzunehmen. Ziele, Motive und Kritik an dem Plan, der bereits kommende Woche auf dem nächsten EU-Gipfel besiegelt werden soll.

Was beinhaltet der Deal?

Vom 1. Juni an will die Türkei alle Flüchtlinge zurückholen, die danach über ihr Territorium nach Griechenland kommen. Das gilt sowohl für Wirtschaftsmigranten als auch Asylbewerber.

Die EU verpflichtet sich, für jeden zurückkehrenden Bürgerkriegsflüchtling aus Syrien einen syrischen Flüchtling aus einem Camp in der Türkei aufzunehmen. Diese Regelung gilt allein für geflohene Syrer.

Und Asylbewerber aus Irak, Iran, Eritrea? „Details müssen noch geklärt werden“, sagen EU-Beamte. Doch handelt es sich hier nicht um Details, sondern den individuellen Asylanspruch. Vor dem Stichtag 1. Juni wird zudem ein Ansturm auf Griechenland erfolgen, um ins EU-Asylverfahren zu kommen.

Wer wählt die Flüchtlinge in den Camps in der Türkei aus?

Die Auswahl erfolgt – wie im bisherigen freiwilligen Umsiedlungsplan der EU für syrische Flüchtlinge – nach den Kriterien des UN-Flüchtlingswerk UNHCR.

Das sind etwa humanitäre Bedürfnisse (etwa wegen Krankheit), familiäre Bezüge in einen EU-Staat oder besondere Fähigkeiten, die beim Aufbau Syriens nach dem möglichen Ende eines Bürgerkriegs nützlich sein können. EU-Beamte sollen nicht in den Flüchtlingscamps in der Türkei eingesetzt werden.

Warum regt sich Kritik?

Aus rechtlichen Gründen. Um die Flüchtlinge aus Griechenland abzuschieben, muss die EU die Türkei als sicheren Drittstaat einstufen, sprich erklären, dass ihnen dort keine Verfolgung droht.

Voraussetzung dafür ist laut EU-Recht die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention der UN. Die aber hat die Türkei bisher nicht vollständig ratifiziert.

Zweiter Grund: Der eigentliche Asylantrag wird erst bei der regulären Wieder-Einreise aus dem türkischen Camp in die EU gestellt. Die neue Regelung degradiert Asylbewerber mit Schutzanspruch zu bloßen Bittstellern. Der einzelne verschwindet in der Masse. Aus einem Individualrecht wird so ein Gemeinschaftsrecht. Die Regelung sei „inhuman und rechtswidrig“, sagt die Grüne Ska Keller.

Wie werden die Flüchtlinge auf die EU-Staaten verteilt?

Das ist die große offene Frage. Kanzlerin Angela Merkel ist mit dem Versuch gescheitert, eine alte Regelung zu beleben. Aus einem früheren Beschluss zur Verteilung von 160.000 Flüchtlingen war noch eine Marge von 54.000 Flüchtlingen offen.

Die aber sollten per Quote verteilt werden. Flugs hat Ungarns Premier Viktor Orban bei den Verhandlungen in der Nacht zu Dienstag mit Blockade gedroht und über einen Tweet auch öffentlich gemacht. Er (sowie Polen, Tschechien und die Slowakei) erzielen, was sie wollen: die Verteilung erfolgt nicht auf Basis der ungeliebten Quote. Sondern freiwillig!

Auf dieser Basis kam die EU aber schon bisher nicht wirklich voran. Das interne Verteilungskampf geht also weiter.

Was treibt die Türkei, was passiert mit der Balkanroute und wer hat gewonnen?

Was treibt die Türkei?

Bisher hat die EU dem Land bis 2018 drei Milliarden Euro für die Unterstützung der 2,5 Millionen Flüchtlinge im Land zugesagt, davon wurden bislang 95 Millionen Euro genutzt. Davutoglu fordert für die Zeit nach 2018 weitere drei Milliarden. Zudem wünscht er fünf neue Kapitel in den Beitrittsgesprächen mit der EU zu öffnen. Und Unterstützung für die Einrichtung einer Sicherheitszone im Norden Syriens. Zudem Visa-Freiheit ab Juni 2016 für seine Bürger bei der Reise in die EU. Die war bisher erst ab Oktober 2016 vorgesehen und nur für Geschäftsleute. Er setzt auf Wandel durch Annäherung. Die „Visa-Erleichterungen dürfen keinesfalls in der Praxis zu Freizügigkeit in der EU führen“, mahnte die CSU-Europaabgeordnete Angelika Niebler.

Wird die Balkan-Route damit geschlossen? Oder was passiert mit Schengen?

Die Logik hinter dem Plan ist sehr europäisch. Europa schaut erstmal auf sich, sprich seine Binnengrenzen. Die bleiben nur offen, wenn die Außengrenze geschützt ist. Dafür sorgt die Türkei als Pufferstaat. Sie wird zu Europas Flüchtlingscamp, Grenzkontrollen zwischen EU-Staaten könnten dann aufgehoben werden.

Und nun die beliebte Frage: Wer hat gewonnen?

Politik funktioniert nicht nach der Fußballlogik, aber nun ja auch die Macht ist ein Spiel. Davutoglu setzt auf Wandel durch Annäherung an Europa. Er hat im internen Ringen mit Präsident Recep Tayyip Erdogan, der in der Türkei ein Präsidialsystem etablieren will, einen kleinen Sieg errungen.

Und Angela Merkel? Die Puffer-Lösung kommt für die Kanzlerin mit Blick auf die Landtagswahlen am Sonntag zu spät. Ihr Unterstützer ist Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Ebenso kleinere Staaten wie Belgien (traditionell pro europäisch) und Holland (traditionell für freien Handel), die sich gern mal hinter Großen verstecken. Frankreich kippelt, zu groß ist die Furcht vor der Rechten Marine Le Pen.

Und Ratspräsident Donald Tusk? Hat in der Vorwoche die Türkei bereist, wurde von dem Deal aber auch überrascht. Ebenso wie die Gipfelrunde. In der Nacht zu Sonntag habe Davutoglu der Kanzlerin und Hollands Premier Mark Rutte von Davutoglu den Plan vorgelegt, streuen Merkels Getreue. Eigentlich handele es sich um einen deutschen Plan, so Merkels Kritiker.

Unabhängig von der Urheberschaft gilt: Merkel führt weiter Regie. Sie duldet keine aufmüpfigen Alleingänge. Das musste Österreichs Kanzlerin Werner Faymann erfahren.

Seine Formel „Die Balkanroute ist geschlossen“, wurde im Schlussdokument verwässert. Auch wenn manche murren: Noch steht Merkel im Zentrum. Und selbst wenn das Grummeln europäisch wächst. Europa ist derzeit so fragil, es kann sich einen Sturz der einzigen Führungspersönlichkeit kaum erlauben.