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Extra Extra: Christian Tietje über die Gewalt im Völkerrecht

Von Torsten Kleditzsch 11.12.2001, 17:57

Halle/MZ. - Im Grunde sind die militärischenMaßnahmen der USA und ihrer Verbündeten inAfghanistan vom Völkerrecht gedeckt. Die fortentwickelteRechtsauffassung lässt diesen Schluss zu.Sie lässt aber auch befürchten, dass in denkommenden Jahren Gewalt wieder eine größereRolle in den internationalen Beziehungen spielenwird, als nach Ende des kalten Krieges erwartetwurde.

Das ist das Fazit, das am Montagabend blieb,als Christian Tietje, Rechtsprofessor an derMartin-Luther-Universität Halle-Wittenberg,seinen Vortrag über die völkerrechtlichenAspekte des Militäreinsatzes in Afghanistanbeendet hatte. Tietje sprach in Halle in derVorlesungsreihe "Terror, Krieg und die Folgen".Er hofft zwar, dass die Staaten auch weiterhinGewalt als die letzte aller Möglichkeitenbetrachten, räumt aber im Gespräch mit derMZ ein, dass die juristische Konstruktion,die den Afghanistan-Einsatz rechtfertigt,"in Extremsituationen militärische Reaktionenleichter möglich macht".

Nach Tietjes Auffassung sind die Militäraktionengegen Afghanistan sowohl durch den Akt derSelbstverteidigung als auch durch die Zustimmungdes UN-Sicherheitsrates völkerrechtlich legitimiert.Dies sind generell die einzig möglichen Gründe,die einen Bruch des ansonsten seit Verabschiedungder UN-Charta 1945 geltenden universellenGewaltverbots erlauben.

Die Zustimmung des Sicherheitsrates findesich in zwei Resolutionen, die das exklusiveGremium, dem in der UN-Charta die Verantwortungfür den Weltfrieden übertragen wurde, kurznach dem 11. September fasste, so Tietje.Darin werde sowohl - als Voraussetzung fürdas Handeln des Sicherheitsrates - eine Bedrohungdes Weltfriedens durch die Terroranschlägefestgestellt, die Verpflichtung aller Staatenausgesprochen, alles ihnen Mögliche gegenden internationalen Terrorismus zu unternehmen,als auch das Recht auf Selbstverteidigunganerkannt. Wobei vor allem der letzte Punkteine entscheidende Fortentwicklung des bislanggeltenden Völkerrechts darstelle. Eine Entwicklungaber, die nach Tietjes Ansicht bereits 1994ihren Anfang nahm.

Damals verurteilte die UN-Vollversammlungerstmals jede Form des Terrors. Der UN-Sicherheitsrat stellte zudem Mitteder 90er Jahre im Zusammenhang mit der WeigerungLibyens, die mutmaßlichen Lockerbie-Attentäterauszuliefern, erstmals eine Gefährdung desWeltfriedens durch Terrorismus fest. 1999schließlich verabschiedete der Sicherheitsrateine Resolution, die alle Staaten verpflichtete,umfassend gegen den internationalen Terrorismusvorzugehen.

Doch damit ist noch nichts darüber gesagt,ob ein Terroranschlag auch als bewaffneterAngriff gilt, der allein einen Gegenschlagals Selbstverteidigung rechtfertigt. Und esbleibt die Frage, gegen wen sich die Militäraktionrichten darf, denn Terroristen besitzen inder Regel keinen eigenen Staat.

Bislang galt rein der Überfall durch einenStaat als bewaffneter Angriff im Sinne desVölkerrechts. "Jetzt haben wir es aber miteinem privaten Terrorismus zu tun", sagt Tietjeund stellt zugleich die entscheidende Frage:"Inwieweit ist es möglich, dieses privateHandeln dem Staat Afghanistan zuzurechnen?"

Vor dem 11. September habe eine effektivestaatliche Kontrolle der privat Handelnden,also deren aktive Unterstützung, als Voraussetzungfür die Zurechenbarkeit gegolten. Danach,so meint Tietje, hält die Mehrheit der Völkerrechtlerbereits jedes staatliche Handeln für ausreichend"das in einem kausalen Zusammenhang mit demTerror steht". Es reicht also die Duldung.

Tietjes Begründung: Mit der UN-Resolutionvon 1999 seien alle Staaten aufgefordert worden,alle Maßnahmen zu ergreifen, um gegen denTerror vorzugehen. Mit der Resolution 1373vom September dieses Jahres erhielten siezusätzlich konkrete Handlungsanweisungen.Afghanistan sei dem nicht nachgekommen. Tietjemeint deshalb: "Die Zurechenbarkeit zu Afghanistanliegt vor."