Europäischer Gerichtshof Europäischer Gerichtshof: Das gute Gewissen Europas
BRÜSSEL/MZ. - Der eigene Vater wollte die Frau loswerden und ließ sie 1977 einweisen - ohne richterliche Anordnung. Es dauerte bis 1984, ehe man ihr Schizophrenie attestiert. Sie versuchte zu fliehen, die Polizei brachte sie zurück. Es dauerte noch einmal zehn Jahre, bis ein Gutachten ergab: Marianne Storck hat nie an der Krankheit gelitten. Sie prozessierte gegen die Behörden, scheiterte und ging dann den Schritt zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Am 16. Juni 2005 dann der Durchbruch: Die Richter warfen den deutschen Behörden schwerste Versäumnisse vor. Marianne Storck wird behindert bleiben. Aber sie hat wenigstens ihr Recht bekommen. Zum ersten Mal.
Straßburg ist für viele die letzte Rettung. Als die Unterzeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention 1953 die Einrichtung des Gerichtshofes beschließen, tun sie einen gewagten Schritt: Denn als die Richter 1959 schließlich ihre Arbeit aufnahmen, wurden sie zur entscheidenden Instanz, nicht mehr die Nationalstaaten und ihre Gerichte. Bis 1998 tagten die Richter aus jedem Mitgliedsland, wenn es nötig war. Seither ständig.
47 europäische Länder traten der Konvention inzwischen bei, verpflichteten sich, die Urteile anzunehmen und zu beachten. Fast 80 00 Klagen sind derzeit anhängig, die meisten gegen Russland. Kurden gingen nach Straßburg, um dubiose Todesfälle aufklären zulassen und Schmerzensgeld von der türkischen Regierung zu fordern.
Es ist die moralische Macht des Gerichtshofes, die ihn kraftvoll agieren lässt. Oft zum Unverständnis der beteiligten Regierungen. Am vergangenen Freitag untersagten Richter der britischen Regierung, den Hass-Prediger Othman Omar Mahmud - mutmaßliche Zentralfigur der Al Qaida - nach Jordanien auszuliefern. Dort drohten im Folter und Tod, hieß es.
Dabei sind es keineswegs nur die politischen Verfahren, die für Schlagzeilen sorgen. Vor zwei Wochen stellten sich die Juristen schützend vor die ehemalige TV-Moderatorin Sabine Christiansen. Ein Fotograf hatte sie beim Spaziergang durch Paris mit ihrem Mann Norbert Medus fotografiert. Prompt holten die Richter ihr wohl bekanntestes Urteil aus der Schublade: 2004 gaben sie der monegassischen Prinzessin Caroline Recht. Sie hatte sich vor deutschen Gerichten erfolglos beklagt, dass heimlich geschossene Bilder mit ihren Kindern veröffentlicht worden waren.
Straßburg stellte damals wie jetzt klar: Solche Bilder "können nicht als Beitrag von allgemeinem öffentlichen Interesse angesehen werden." Ihre Verwendung und Veröffentlichung ohne Einverständnis sind verboten.
"Der Gerichtshof ist ein Opfer seines Erfolges", sagt die deutsche Richterin Renate Jaeger heute und hofft auf eine Reform. Schon jetzt sind die 620 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter völlig überfordert, um die Flut der Anträge in angemessener Zeit zu bearbeiten. Aber die wichtigere Aufgabe besteht in der Kontrolle, ob die Urteile auch umgesetzt werden. Dabei bedarf es nicht selten massiven Drucks - auch auf Regierungen. Manchmal reicht es, Vorgänge einfach nur öffentlich zu machen. Als die Türkei den mutmaßlichen Führer der Terror-Organisation PKK, Abdullah Öcalan, 1999 zum Tode verurteilte und schließlich unter - wie er fand - erniedrigenden Bedingungen inhaftierte, prüften die Menschenrechts-Richter die Sache. 2005 entschieden sie: Der Verlauf des Prozesses gegen Öcalan verstieß wie seine Haft gegen die Konvention.
Man korrigierte den Strafvollzug zumindest im Fall Öcalan schnell. Die Straßburger Richter hatten einmal gesiegt - im Namen der Menschenrechte.