Estland Estland: Streit um sowjetisches Kriegerdenkmal eskaliert

Tallinn/Moskau/Berlin/dpa. - Bei den Krawallen vornehmlichrussischstämmiger Jugendlicher in der zweiten Nacht in Folge nahm diePolizei nach eigenen Angaben vom Samstag mehr als 600 mutmaßlicheRandalierer fest. Harsche Kritik am Vorgehen der estnischenSicherheitsbehörden kam von der Regierung Russlands. Die Polizei habe«übermäßig Gewalt angewendet» und dadurch Dutzende friedlicheDemonstranten verletzt, erklärte das Außenministerium in Moskau. DieEU-Ratspräsidentin und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) rief beideSeiten zur Besonnenheit auf.
Auslöser der Gewalttätigkeiten ist die Demontage einessowjetischen Kriegerdenkmals im Zentrum der estnischen HauptstadtTallinn, die schon im Vorfeld für Streit zwischen Estland undRussland gesorgt hatte. Nach russischer Ansicht stand es für den Siegüber den Faschismus, für die Esten war es Symbol einerjahrzehntelangen Fremdherrschaft. Das am Freitagmorgen abgetrageneDenkmal soll auf einem Soldatenfriedhof am Rande Tallinns wiederaufgebaut werden.
Nach Augenzeugenberichten zogen am späten Freitagabend rund 2000Jugendliche durch Tallinn und griffen Polizisten mit Flaschen undSteinen an, stürzten Autos um, zertrümmerten Fensterscheiben undplünderten Geschäfte. Die Ordnungskräfte setzten Tränengas undWasserwerfer ein. Viele der Randalierer seien angetrunken und mitSchals und Masken vermummt gewesen, hieß es. Von den 600 Festgenommenseien mindestens 100 jünger als 18 Jahre gewesen. Außer in Tallinngab es auch in den Städten Johvi und Kohtla-Jarve im Osten des LandesAusschreitungen.
Der Sprecher des russischen Außenministeriums, Michail Kamynin,erklärte, die estnische Führung trage allein die Verantwortung fürdie Eskalation der Gewalt. Russland erwarte von der NATO und derEuropäischen Union eine Verurteilung der Geschehnisse imMitgliedsland Estland.
Merkel telefonierte am Samstag sowohl mit dem estnischenMinisterpräsidenten Andrus Ansip als auch mit dem russischenPräsidenten Wladimir Putin. Dabei appellierte sie nach Angaben vonRegierungssprecher Ulrich Wilhelm an beide, jegliche Eskalation zuvermeiden. Da es sich bei den Maßnahmen um eine souveräneEntscheidung der estnischen Regierung handele, habe dieBundesregierung die Aufnahme direkter Kontakte zwischen Estland undRussland vorgeschlagen, insbesondere auf Ebene der beiden Parlamente.
Bereits in der Nacht zum Freitag war bei Ausschreitungen inTallinn ein 19-Jähriger getötet worden. Nach Behördenangaben wurden56 Menschen verletzt und mehr als 400 festgenommen. Der getöteteJugendliche sei russischer Staatsbürger gewesen, hieß es in Moskau.Vor der estnischen Botschaft in Moskau demonstrierten Anhänger einerkremltreuen Jugendorganisation. Auch in anderen russischen Städtenkam es zu Protestkundgebungen gegen Estland.
Estland war 1940 wie die baltische Schwesterrepublik Lettland aufGrund des Hitler-Stalin-Paktes von der UdSSR annektiert worden. AuchLitauen wurde von Berlin der sowjetischen Einflusssphärezugeschlagen. 1941 wurde Estland von der deutschen Wehrmacht besetzt,1944 von der sowjetischen Armee zurückerobert. 1991 wurden diebaltischen Staaten wieder unabhängig. Im Museum der Okkupation inTallinn, das die Zeit von 1940 bis 1991 dokumentiert, heißt es heute,die sowjetische Besatzung sei schlimmer als die deutsche gewesen.Russischstämmige Esten machen rund 25 Prozent der etwa 1,35 MillionenEinwohner des baltischen Staates aus.
