Erste Pflegereform seit zwölf Jahren
Berlin/dpa. - Die Pflegeversicherung wird zwölf Jahre nach ihrer Einführung erstmals umfassend reformiert. Mit jährlich 2,5 Milliarden Euro zusätzlich aus Beitragsmitteln sollen Pflegesätze erstmals angehoben und Betroffene besser beraten werden.
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) sagte nach dem Kabinettsbeschluss am Mittwoch, die Reform sei ein «großer Schritt» für Millionen Pflegebedürftige, Angehörige und Pfleger. Trotz des Widerstands der Union plädierte Schmidt weiter dafür, Angehörigen bis zu zehn Tage bezahlten Urlaub für die Organisation von Pflege zu gewähren. Die Opposition und die Arbeitgeber kritisierten die Reform, über die Union und SPD monatelang gerungen hatten, als unzureichend.
Der Beitragssatz soll zum Reform-Start am 1. Juli 2008 um 0,25 Punkte auf 1,95 Prozent und 2,2 Prozent für Kinderlose steigen. Dies reiche bis Ende 2014 aus. Danach seien «neue Antworten» nötig, sagte Schmidt. Erstmals sollen altersverwirrte Menschen auch ohne Einstufung in eine der drei Pflegestufen Leistungen erhalten, nämlich zwischen 460 Euro und 2400 Euro im Jahr. Von den insgesamt 300 000 Betroffenen würden voraussichtlich 30 000 neu davon Gebrauch machen, sagte Schmidt. Die bestehenden Pflegesätze werden bis 2012 allmählich angehoben, bis auf 1918 Euro in Stufe III bei Härtefällen.
Pflegebedürftige und Angehörige müssten künftig nicht mehr «von Pontius zu Pilatus rennen», kündigte Schmidt an. Neue Beratungsstellen, sogenannte Pflegestützpunkte, sollen für jeweils rund 20 000 Einwohner zuständig sein. Ihre Pflegeberater sollen den Bedarf an Hilfen ermitteln und Versorgungspläne aufstellen.
Bezahlte Freistellung für Angehörige, die zuhause einen Pflegefall organisieren müssen, werde «irgendwann Realität», sagte Schmidt. Im Deutschlandfunk ergänzte sie: «vielleicht in der nächsten Legislaturperiode». Man werde aber sehen, was der Plan der SPD- Fraktion erbringe, dieses im nun folgenden parlamentarischen Verfahren noch durchzusetzen. Der Entwurf sieht eine unbezahlte Freistellung vor. Neu ist auch die Möglichkeit, sechs Monate Pflegezeit ohne Lohnersatz zu nehmen.
Nach Aufsehen erregenden Berichten über schlechte Zustände in vielen Heimen zeigte sich Schmidt optimistisch, dass es künftig «so wenig Missstände wie möglich» geben werde. Alle drei statt heute alle fünf Jahre soll es Kontrollen geben, dazu bei 20 Prozent der Einrichtungen jährlich unangemeldete Prüfungen. Verständliche Berichte über die Qualität der Heime in der Umgebung sollen dann für jeden im Internet per Mausklick zu finden sein. Von Prüfungen und ihrer Dokumentation erhofft Schmidt sich «mehr Wettbewerb». Unnötige Klinik-Einweisungen etwa am Wochenende sollen notfalls durch die Einstellung neuer Heimärzte vermieden werden.
Grünen-Chef Reinhard Bütikofer kritisierte den Entwurf als «fragwürdiges Flickwerk». Nötig wäre eine dreimonatige Pflegezeit mit steuerfinanziertem Lohnersatz. FDP-Experte Heinz Lanfermann kritisierte, Schmidt steige mit Pflegeberatern und -stützpunkten «in die Staatspflege» ein. Der Pflege-Experte der Linken, Ilja Seifert, kritisierte, viele Bedürftige erhielten nur zehn Euro mehr im Monat.
Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagte: «Es werden weitere Leistungsverbesserungen beschlossen, ohne gleichzeitig eine Antwort darauf zu geben, wie diese langfristig finanziert werden sollen.» Die Unions-Mittelstandsvereinigung bemängelte, Generationengerechtigkeit und Demographiefestigkeit werde nicht erreicht.
Baden-Württembergs Sozialministerin Monika Stolz (CDU) sagte der Deutschen Presse-Agentur, die Koalition sei mit ihrem Entwurf den Ländern «nicht weit genug» entgegengekommen. Die Pflegekassen dürften bei der Einrichtung der Stützpunkte nicht bestimmend bleiben. Die Berliner Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (Linke) kritisierte, die Überschüsse der privaten Pflegeversicherungen blieben unangetastet.
Bernd Meurer, Chef des Verbandes privater Anbieter sozialer Dienste, lobte «die vielen Verbesserungen in der ambulanten und teilstationären Pflege». So äußerte sich auch die AOK.