Erfahrungsbericht Erfahrungsbericht: Eine veränderte tief erschütterte Stadt
Paris - Ein Knall ist eigentlich nichts Besonderes im Stadion, tatsächlich detonieren während Fußballspielen immer wieder Böller, die das Publikum zusammenzucken lassen. Ein Schreck ist das, der viele ärgert, aber auch manche begeistert, die selbst das lauteste Krachen beklatschen und mit anerkennendem „Hey!“ quittieren. Doch der Knall, der in der 22. Minute des Test-Länderspiels am Freitagabend zwischen Frankreich und Deutschland das Stade de France im Pariser Stadtteil St. Denis erschütterte, unterschied sich fundamental vom üblichen Böllerwahnsinn. Obwohl tatsächlich ein paar Leute auf den Rängen applaudierten, stürzte das Geräusch das Stadion in einen seltsam-verwirrten Zustand.
Die Betonstufen des Stade de France haben gebebt
Was war passiert? Es hatte eindeutig nicht im Innenraum geknallt, dafür aber mit einer derartigen Wucht, dass die Betonstufen des Stade de France unter den Sitzen gebebt hatten. Die Arena liegt in unmittelbarer Nähe des Autobahnrings. Hatte es einen Unfall gegeben? War womöglich ein Tanklaster explodiert? Auf dem Rasen setzen die Mannschaften das Spiel ungerührt fort, Fußballprofis sind darauf gedrillt, die 90 Minuten in einen Konzentrationstunnel zu legen. Sie befassen sich ausschließlich mit ihrer taktischen Aufgabe – selbst wenn draußen eine Bombe hochgeht.
Es folgten weitere Explosionen. Im Stadion war das Datennetz ausgefallen, auch das ist keine Besonderheit. Seit beinahe jeder Mensch ein Smartphone in der Tasche hat, mit dem er während des Spiels Fotos nach Hause sendet, telefoniert oder die Statistiken live verfolgt, haben die Netzanbieter kaum eine Chance: Zwar rüsten sie die Infrastruktur immer weiter auf, doch das massenhaft genutzte Datenvolumen ist mehr, als die Funkzellen rund um die Stadien verkraften können. Der überwiegende Teil der Zuschauer war daher von allen Informationen der Außenwelt abgeschlossen, und tatsächlich dauerte es einige Zeit, bis erste Gerüchte die Runde machten.
Fußballreporter sind ebenfalls darauf trainiert, die Spiele in höchster Konzentration zu verbringen. Schließlich müssen sie bei laufendem Betrieb Texte über ein Spiel verfassen, von dem sie beim Schreiben bei weitem nicht wissen, wie es ausgeht. Das ideale Spiel aus Sicht eines Reporters ist früh entschieden – und findet in einem Stadion mit stabilen Internetverbindungen statt. Nun ist das Stade de France eine Arena mit modernster Ausstattung, in der es zum Service gehört, für die Pressetribüne ein eigenes W-LAN anzubieten. Doch auch solche Netze kollabieren leicht, da die Journalisten ihren Datenverbrauch nur ungern zügeln. Daher hatten die Reporter auf der Tribüne einerseits kaum Zeit, die Online-Medien im Blick zu behalten, da sie das Spiel verfolgen und Texte schreiben mussten. Und andererseits waren sie viel zu sehr damit beschäftigt, stabile Datenleitungen einzurichten, um ihre Beiträge in die Redaktionen schicken zu können.
Der Betrieb ging weiter
Allerdings reagierten die digitalen Medien insgesamt mit leichter Verzögerung – verständlicherweise: Die meisten Menschen im Stadtteil St. Denis befanden sich zum Zeitpunkt der Explosionen im Stadion, rund 78.000. Und wer die Anschläge aus nächster Nähe miterlebt hatte, hatte Besseres zu tun als mit dem Smartphone Nachrichten abzusetzen. Kurz vor der Halbzeit gingen die Franzosen in Führung, das Stadion feierte ausgelassen, Torschütze Olivier Giroud ebenso. Irgendwie waren zwar Explosionen zu hören gewesen. Aber die Realität schien einfach darüber hinweggehen zu wollen.
Der Betrieb ging weiter. Nicht drüber nachdenken. Außerdem ist ein Spiel zwischen den großen Franzosen und dem Weltmeister im prächtigen Stade de France eine nicht zu unterschätzende Ablenkung von der Welt außerhalb des Stadions.
Dann sickerten doch die ersten Nachrichten durch die verstopften Datenleitungen. Zunächst auf Twitter, kurz darauf über die großen Nachrichtenportale: Anschläge überall. Auch am Stadion, offenbar vor dem Eingang zu Block J. Im Stade de France prangen die Buchstaben groß über den Eingängen der Blöcke. Egal, wo man sitzt: Block J ist nicht fern. Dort waren Menschen gestorben. Man hatte es gehört, keine 50 Meter entfernt.
Auf der nächsten Seite: Am Vormittag gab es eine telefonische Bombendrohung gegen das Hotel der Mannschaft
Am Himmel kreisten Hubschrauber, und plötzlich erinnerten sich die Reporter daran, wie sie am Mittag leicht genervt in den Pariser Südwesten zum Hotel der Mannschaft geeilt waren, weil es eine telefonische Bombendrohung gegeben hatte. An Spieltagen arbeiten Reporter spät und unter großem Druck. Der Vormittag ist der Ruhe vorbehalten. Da setzt man sich nur ungern spontan in die Metro und stellt sich vor ein Luxushotel, dessen Personal vollzählig auf der Straße steht und Witze macht, weil sich am Ende doch nur wieder einen Scherz erlaubt hat. Man wolle andererseits schon dabei sein, wenn an einem Freitag, den 13., das Quartier der deutschen Fußball-Nationalmannschaft in die Luft fliegt, fanden die Reporter – ebenfalls in der Überzeugung, dass schon nichts sei. Und als dann die Bombenspürhunde das Hotel verlassen hatte und die DFB-Auswahl aus ihrem kurzzeitigen Exil im Tennis-Park Roland Garros zurück war, gingen alle wieder ihrer Wege und begaben sich zur Mittagsruhe.
Der Vorfall mit der Bombendrohung war bis zum Anpfiff im Stadion beinahe in Vergessenheit geraten. Aus professioneller Sicht gab es auch keinen Grund, die Angelegenheit weiter zu verfolgen: Denn nach dem Spiel zwischen Deutschland und Frankreich mit all seinen Erkenntnissen und Vorfällen würde sich niemand mehr für einen armen Irren interessieren, der im Hotel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft für einen turbulenten Vormittag gesorgt hatte. Ein paar Stunden später sollte niemand mehr über Bombendrohungen scherzen.
Auch die zweite Halbzeit wurde angepfiffen, was sollten die französischen Behörden auch tun? 78.000 Menschen wollte man lieber auf ihren Sitzplätzen haben als auf der Flucht. Auf der Ehrentribüne hatten sich die Reihen da bereits gelichtet: Francois Hollande, Frankreichs Staatspräsident, war von seinem Stab aus der Arena gebracht worden, mit ihm diverse weitere Würdenträger.
Jedes laute Geräusch sorgte für Angst
Die Franzosen feierten auch ihr zweites Tor frenetisch. Doch immer mehr Gerüchte machten die Runde, und die Stimmung wurde seltsam. Als nach dem Schlusspfiff die Menschen aus dem Stadion strömten, war das Bild ein disparates: Manche gingen beschwingt, hatten einander untergehakt und freuten sich über das bemerkenswert interessante Spiel, das ihnen da geboten worden war. Anderen dagegen war die Beunruhigung anzusehen. Jedes laute Geräusch sorgte für Angst, und plötzlich brach Panik aus, worauf Hunderte zurück in Richtung Stadion rannten oder Schutz suchten hinter Betonpfeilern. Väter mit ihren Kindern auf dem Arm glaubten, um ihr Leben zu rennen. Gerüchte von einem Schützen kursierten, von Schüssen und weiteren Bomben, von Attentätern überall.
Mehrere Tausend Menschen warteten schließlich auf dem Rasen des Stadions auf Entwarnung. Viele standen unter Schock, lagen am Boden, wurden erstversorgt und in Rettungsdecken gehüllt. Es waren Szenen wie aus einem Katastrophenfilm. Gegen 23.30 Uhr wurden die Menschen über die Stadionlautsprecher aufgefordert, den Innenraum ruhig zu verlassen und nach Hause zu gehen. Das Stadion wurde sanft geräumt, offenbar hielt die Polizei die Lage für sicher. Allerdings nicht sicher genug, um auch die deutsche Nationalmannschaft in die Nacht zu entlassen.
Die Reporter verließen erst weit nach Mitternacht das Stadion und den mittlerweile beinahe menschenleeren Stadtteil. Auf dem Weg zurück in die Innenstadt der dunkle Eiffelturm und die Silhouette von Notre Dame – die Pariser Stadtverwaltung hatte die Beleuchtung ihrer Wahrzeichen spontan ausgeschaltet. In der Dunkelheit der Boulevards standen überall Polizisten mit automatischen Waffen, bis in den Morgen hallten Sirenen durch die Häuserschluchten. Am Samstagmorgen erwachte Paris als eine veränderte, tief erschütterte Stadt.