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Elf Jahre Bundeskanzlerin Elf Jahre Angela Merkel als Bundeskanzlerin: So haben sich die politischen Verhältnisse in Deutschland verändert

Von Holger Schmale 17.03.2016, 14:40
Eine nachdenkliche Kanzlerin: Für Angela Merkel stehen entscheidende Wochen bevor.
Eine nachdenkliche Kanzlerin: Für Angela Merkel stehen entscheidende Wochen bevor. dpa

Berlin - Es spricht aus heutiger Sicht viel dafür, dass die Flüchtlingsfrage der definierende Moment der Kanzlerschaft Angela Merkels sein wird. Entweder wird sie die Krise meistern oder an ihr scheitern,  die Flüchtlingskanzlerin wird sie wohl so oder so bleiben.

Es zeigt sich jetzt aber auch noch ein zweites Merkmal ihrer Ära. Nie zuvor hat ein einzelner Politiker die politische Landschaft der Bundesrepublik so nachhaltig umgepflügt wie die CDU-Vorsitzende.

Merkel-Umgang hat noch nie dagewesene Qualität

Zwar waren Parteien hierzulande schon immer dann besonders erfolgreich, wenn sie ihre führenden Personen in den Vordergrund gestellt und sich selbst zurückgezogen haben. Die Adenauer-CDU plakatierte: „Auf den Kanzler kommt es an!“. Später hieß es „Willy wählen!“, und ohne Helmut Kohl wäre die CDU nicht die entscheidende Regierungspartei der Jahre vor und nach der deutschen Einheit geblieben. Doch der Umgang Merkels mit ihrer Partei – und umgekehrt - hat eine andere Qualität.

Die alte Bundesrepublik war geprägt von ihren politischen Lagern – den Parteien mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld wie der katholischen Kirche für die Union, den Gewerkschaften für die SPD und auch den jeweils sympathisierenden Medien. Bis weit in die 90er Jahre hinein war klar erkennbar, welchem Lager welche Zeitung zuneigte.

Kein Einheitsbrei

Einen heute oft beklagten Mainstream, bei dem alle in eine Richtung zu schreiben scheinen, gab es nicht. Sehr viele Bürger fühlten sich einem der beiden großen Lager zugehörig, hier war man zuhause, diese eine Partei wählte man. Dieses System hat sich weitgehend aufgelöst.

Es war bezeichnend, was die dem sozialdemokratischen Milieu entstammende Schriftstellerin Juli Zeh jüngst bei „Hart aber fair“ schilderte: dass sie einerseits den neben ihr sitzenden SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann aus grundsätzlicher Sympathie für die Sozialdemokraten am liebsten umarmen wollte, andererseits aber im Zweifel für Angela Merkel, also die CDU, stimmen würde, um deren Flüchtlingspolitik zu unterstützen.

CDU kaum noch als konservativ zu erkennen

Niemand steht für die Auflösung der politischen Lager und ihrer Gewissheiten so sehr wie die CDU-Vorsitzende. Selber vollkommen frei von jeglicher Milieuprägung der Bundesrepublik, aufgewachsen in einer eher linken Pfarrersfamilie in der DDR, hat sie die CDU auf eine Weise modernisiert, dass sie heute als konservativ geprägte Partei kaum noch erkennbar ist.

Das Bekenntnis zur Hauptschule, Wehrpflicht, Atomkraft, zu einem traditionellen Familienbild, zur Nation als entscheidendem Identitätsfaktor – all das und noch viel mehr solcher Gesinnungsanker sind der CDU unter der Führung Merkels abhanden gekommen. Nach Jahren der politischen Diaspora haben Konservative in der AfD nun eine neue Adresse gefunden, freilich nicht nur sie. Auf gute alte Zeiten hoffende Abgehängte und völkische Hetzer finden sich da auch zusammen.

Flüchtlingskrise zeigt Veränderungen

In der Flüchtlingskrise zeigen sich die Folgen. Nach dem alten System wären CDU/CSU und ihre Führung so aufgetreten, wie es heute nur noch die CSU tut: Als Wahrer eng verstandener deutscher Interessen, Gegner größerer Zuwanderung, als Partei von Recht und Ordnung. Die Sozialdemokraten hätten im besten Fall gemeinsam mit Grünen und Linken im Geiste Willy Brandts eine Politik der offenen Arme verfolgt. Die Lager wären klar umrissen gewesen.

Nun aber hat Angela Merkel diese Grenzen eingerissen. Sie führt faktisch eine überwölbende schwarz-rot-grüne Koalition, deren verschiedene neue Ausformungen sich demnächst in den Regierungen von Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt zeigen werden. Natürlich ruft da der Oberrealo der Linken, Gregor Gysi, auch schon „hier“ und schließt die Beteiligung seiner Partei an einer CDU-Regierung nicht mehr völlig aus.

SPD als Opfer von Merkels Politik

Man kann nicht wirklich sagen, dass die CDU von der Strategie ihrer Vorsitzenden – wir gehen einmal davon aus, dass es eine ist – profitiert.  Das eigentliche Opfer aber sind die Sozialdemokraten. Die zugespitzte Analyse des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner, mit CDU und SPD gebe es heute zwei sozialdemokratische Parteien in Deutschland, ist nicht ganz falsch. Doch anders als die Regel besagt, wählen die Menschen nicht das Original, sondern eben Angela Merkel. Die Parteivorsitzende, die es von Anfang an ihrer Kanzlerschaft vorgezogen hat, sich (bis auf Zeiten von Wahlkämpfen) aus dem Parteienstreit herauszuhalten. Deshalb ist es auch berechtigt, von einer Strategie zu sprechen.

Man muss dem alten politischen Lagerdenken nicht nachtrauern. Doch ob Deutschland auf Dauer mit einer Art Stimmungsdemokratie, wie sie sich bei den letzten Wahlen gezeigt hat, besser fährt, ist auch fraglich. Insofern tut die SPD sehr gut daran, die Flüchtlingsfrage immer klarer mit der Gerechtigkeitsfrage zu verknüpfen. Das ist ein klassischer sozialdemokratischer Ansatz. Dass ausgerechnet ihr alter Agenda-2010-Kanzler Gerhard Schröder dazu die treffendsten Worte findet, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.