Einsichten eines Wessis Einsichten eines Wessis: Fremdheitsgefühle Feindseligkeiten und andere Wahrnehmungen

Berlin - Der ältere Herr in Heidenau hatte mich sofort identifiziert. „Guck nicht so wessihaft-arrogant!“, sagte er, als er mich sah. Ich fühlte mich ertappt und grundlos beschämt. Ein anderer Mann trug ein Schild vor der Brust. Darauf stand: „Onanieren und hartzen – mein Beitrag für mehr Weltoffenheit.“ Das stand da wirklich. Er hatte nach eigenem Bekunden seit fünf Jahren keine Frau mehr und seit neun Jahren keinen Job. Nun bot sich ihm endlich die große Bühne zur umfassenden Selbst-Demütigung. Schließlich war da noch der Zeitgenosse direkt vor mir, der die neben ihm stehende Zeitgenossin fragte, ob sie schon mal in der islamischen Welt gewesen sei. „Wie denn?“, fragte die zurück. Kein Geld. Sie hartze doch.
Die vier Sachsen und ich waren fünf von mehreren Hundert Menschen, die im August 2015 auf die Kanzlerin warteten. In Heidenau hatten zwei Nächte lang „besorgte Bürger“ und organisierte Rechtsextremisten vor einem Baumarkt randaliert, in dem muslimische Flüchtlinge wohnten. Angela Merkel kam, um ein Zeichen gegen die Unmenschlichkeit zu setzen. Manche riefen ihr „Volksverräterin“ zu, andere: „Verpiss Dich!“ Ich war so erschrocken wie lange nicht. Und mir schien, als würde ich mich in einem mir fremden Land befinden: in Ostdeutschland. Dabei stimmt das gar nicht. Heidenau ist bloß die Spitze des Eisbergs.
Glückliche neun Jahre „drüben“
Ich selbst ging 1992 nach dem Studium von Münster zum Zeitungs-Volontariat nach Sachsen-Anhalt, von früh an ost-politisch interessiert und geprägt auch durch verwandtschaftliche Beziehungen. Ich blieb bis 2001 – und ich blieb gern. Es gab Krisen, das schon. 1998 zum Beispiel, als die rechtsextreme DVU mit 12,9 Prozent in den Magdeburger Landtag einzog und mich mehr noch als das Wahlergebnis der Umstand erschütterte, dass sich niemand darüber aufzuregen schien. Dennoch: Ich verlebte glückliche neun Jahre „drüben“.
2001 zog ich nach Berlin. Ich wohne im Osten der Stadt. Meine Liebste stammt aus Thüringen. Das Ost-West-Thema blieb mir auch deshalb nah. 2014 schrieb ich ein Buch über die „Zweite Heimat“, über Westdeutsche im Osten. Es war ein Buch über Menschen wie mich, die nach dem Mauerfall von West nach Ost gegangen waren – und mal froh dabei wurden, mal weniger froh. Selbst jene, die den Umzug erst in den letzten Jahren wagten, stellen fest, wie unterschiedlich die Verhältnisse noch sind.
Kein Interesse in den West-Medien
Es gibt beiderseitige Fremdheitsgefühle, Feindseligkeiten – und unübersehbare Differenzen in der Wahrnehmung. Während die in Westdeutschland gebliebenen Westdeutschen überwiegend meinen, all das übersehen zu dürfen, wissen die Ostdeutschen und die nach Ostdeutschland emigrierten Westdeutschen, dass das nicht funktioniert. Es gibt zwei Länder in einem. Die Reaktionen auf das Buch nährten meine These. Im Osten interessierten sich nahezu alle Regionalzeitungen dafür. Ich bekam einstündige Interviews im MDR und im RBB. Interesse in den West-Medien – Fehlanzeige.
Ähnlich verhielt es sich mit den Lesungen. Ich bekam Einladungen nach Bad Langensalza, Bad Salzungen, Bernburg, Erfurt, Görlitz, Gotha, Klütz, Leipzig, Magdeburg, Meiningen, Potsdam, Rostock, Schwedt, Schwerin, Trebbin und Weimar. Mich erreichten aber bloß drei Einladungen aus dem Westen – aus Frankfurt, Pforzheim und Wiesbaden. Dem durchschnittlichen Westdeutschen ist die Sache nach wie vor herzlich egal – was ihn nicht hindert, zu behaupten, dass alles in Ordnung sei. Nur so lassen sich auch die oberflächlichen Festtagsreden und der Einheits-Kitsch zum 3. Oktober erklären. Man will es nicht wissen. Man will es zumindest nicht so genau wissen.
Alles andere als ein „Ossi“
Nun bin ich alles andere als ein „Ossi“ geworden. Wer die ersten 28 Jahre seines Lebens im Westen verbracht hat, ist „Wessi“, lebenslang. Ja, meine eigene Entfremdung hat im Zuge von Pegida und AfD eher wieder zugenommen. Wenn ich sehe, wie Zeitgenossen, die illionenfach gen Westen flohen, heute selbst Flüchtlinge attackieren, dann bin ich dem Verstummen nahe. Und wenn ich lese, dass die meisten Erst-Wähler in Sachsen-Anhalt zuletzt die AfD gewählt haben, dreht sich mir der Magen um.
Aber Ignoranz verschärft die Misere. Denn was wir da erleben, hat eben auch mit einer gescheiterten Einheit zu tun. Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass der Osten eine Zwei-Drittel-, bestenfalls eine Drei-Viertel-Gesellschaft geworden ist, beim Bruttoinlandsprodukt, beim Einkommen, beim Vermögen. Unlängst meldete das Bundesinstitut für Bevölkerungsentwicklung zwar, dass die Netto-Abwanderung von Ost nach West gestoppt sei. Bei genauerem Hinsehen erwies sich diese Diagnose freilich als zweifelhaft. Sie galt allein, weil man das boomende Berlin mitzählte. Am stärksten bildet sich das Ost-West-Gefälle in den Funktionseliten ab.
Andere Erfahrungen und Sichtweisen
Einer Studie der Universität Leipzig zufolge stammen bald 27 Jahre nach dem Mauerfall lediglich 20 Prozent der Führungskräfte in Ostdeutschland auch von dort. In der Justiz, beim Militär und in der Wirtschaft geht die Ost-Quote gegen Null. So gab es 2014 unter allen 181 Dax-Vorständen exakt vier Ostdeutsche – und 47 Ausländer. Noch 2013 kam fast die Hälfte der ostdeutschen Länderminister aus dem Westen. Ähnlich, wenn auch amüsanter ist die Geschichte, die mir der Grünen-Politiker Christian Ströbele einmal erzählt hat. Der Jurist erinnerte sich an Gerichtsprozesse, die er in den 90er Jahren in Brandenburg erlebte. „Der Richter war ein Westdeutscher, der Staatsanwalt war ein Westdeutscher, der Verteidiger war ein Westdeutscher“, sagte Ströbele. „Nur der Angeklagte war ein Ostdeutscher.“ Dann lachte er.
Der Einwand, dass all das die jungen Ostler nicht mehr interessiere, ist Gott sei Dank richtig. Aber alle, die bis 1990 geboren wurden, sind in Verhältnissen groß geworden, die sich von den westdeutschen Verhältnissen signifikant unterscheiden. Entweder wurden sie in der DDR sozialisiert – oder in den Umbruchzeiten der Schluss-Dekade des vorigen Jahrhunderts, von denen der Westen bis heute keinen Schimmer hat. Daraus resultieren grundlegend andere Erfahrungen und Sichtweisen.
Kritik am bestehenden politischen System
Der Görlitzer Soziologe Raj Kollmorgen schreibt, „die Marginalisierung Ostdeutscher ist nicht nur für eine im Vergleich zu Westdeutschland größere Eliten-Bevölkerungs-Distanz in den neuen Ländern mit verantwortlich zu machen, sondern auch für eine stärkere Kritik am bestehenden politischen System sowie ausgeprägtere links- und rechtspopulistische Einstellungen“. Weil sich die Ostdeutschen in den Institutionen zu wenig wiederfinden, identifizieren sie sich nicht ausreichend mit ihnen. So nimmt die Demokratie Schaden. Mir scheint es darum keineswegs abwegig, Pegida und verwandte Phänomene als fehlgeleiteten Protest gegen diese westdeutsche Dominanz zu lesen. Oder, wie Kollmorgen es ausdrückt: „Die Entfremdung zwischen Eliten und dem berühmten gemeinen Volk, die sich in radikalen Strömungen äußert, hat ihrerseits auch etwas mit der Herkunft dieser Eliten zu tun.“
Die aus dem Wende-Herbst 1989 adaptierte Parole „Wir sind das Volk“ ließe sich entsprechend übersetzen mit: „Wir sind das Ost-Volk – und ihr seid die West-Eliten.“ Diese Diagnose würde überdies erklären, warum die 68er-Bewegung im Osten neuerdings wieder als Feindbild aufgerufen wird. Ihre liberale Vorstellung von Gesellschaft ist in den westdeutschen Common Sense eingesickert und wird vom Osten nun abgestoßen. Dies gilt vor allem für das Verhältnis zu Minderheiten, Migranten in erster Linie. Hinter deren Abwehr versteckt sich die Abwehr des oft multikulti-freundlichen Westdeutschen.
Geschichte als Gegenwart begreifen
Ich muss da an eine Episode des aus Thüringen stammenden Schriftstellers Lutz Rathenow denken. Er berichtete mir, bei einer Lesung in Wolfen, irgendwann zwischen Mauerfall und Vereinigung, hätten ihm Zuhörer gesagt: „Die werden sie ja jetzt wohl nach Hause schicken.“ Gemeint war, dass die Westdeutschen die Türken nach Hause schicken würden. Jetzt, wo die Ostdeutschen da seien. Das ist bekanntlich nicht geschehen.
Man hat es 1990 als allgemein lässliche Sünde erachtet, dass die Vereinigung keine Vereinigung war, sondern eine freundliche Übernahme. Für alles andere war keine Zeit. Und überhaupt: Waren wir nicht alle Deutsche? Dabei ging es um die elementare Frage, wie wir in Deutschland künftig leben wollen. Ein Konsens darüber ist bis heute nicht hergestellt.
Mir geht es nicht um Schuldzuweisungen. Es geht darum, Geschichte als Gegenwart zu begreifen. Und im Osten wirken ein unverdauter Nationalsozialismus ebenso fort wie eine unverdaute SED-Diktatur – und eben eine unverdaute Vereinigung. Es ist alles noch da.
Zugleich halten Fachleute für denkbar, dass die ökonomische Angleichung noch bis Ende des Jahrhunderts dauern wird – wenn sie überhaupt erreicht wird. Und das bedeutet: Der seit 1949 anhaltende Aderlass der Ostdeutschen, die in der Heimat Funktionseliten sein könnten, wird weiter gehen.
„Schön, dass Ihr jetzt auch Westen seid!“
Das Ungleichgewicht zwischen Ost und West ist in Vielem nach wie vor zu groß, materiell wie mental. Das ist ein Problem, dessen Lösung weder in Nonchalance noch in Pathos besteht. Die kluge Gesine Schwan hat einst gesagt, gesellschaftliche Veränderung trete ein durch den Wechsel von Generationen oder durch harte Auseinandersetzungen. Da autoritäres Gedankengut aber heute auch in vielen jungen Ostdeutschen auffindbar ist, spricht umso mehr dafür, den Weg der harten Auseinandersetzung zu wählen. Dabei gehört alles auf den Tisch. Alles. Ja, es wird Zeit, über Deutschland zu reden.
Meine Liebste war im Frühjahr in Schwaben. Als sie auf die Frage nach ihrer Herkunft wahrheitsgemäß Thüringen antwortete, war die Reaktion diesmal nicht hilfloses Schweigen wie sonst, sondern ein fröhliches „Schön, dass Ihr jetzt auch Westen seid!“
Es war gut gemeint. Doch es hatte mit der Wahrheit nichts zu tun.