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Einschulung Einschulung: Gehen Kinder bald mit vier Jahren zur Schule?

Von Andreas Heimann 17.06.2004, 08:40
Schon mit vier Jahren Schreiben und Lesen lernen? Ähnlich frühe Einschulungstermine wie in manchen anderen Ländern lässt das deutsche Bildungssystem derzeit nicht zu. Trotzdem ist es mitunter sinnvoll, wenn Eltern ihr Kind früher als üblich in die Schule schicken. (Foto: dpa)
Schon mit vier Jahren Schreiben und Lesen lernen? Ähnlich frühe Einschulungstermine wie in manchen anderen Ländern lässt das deutsche Bildungssystem derzeit nicht zu. Trotzdem ist es mitunter sinnvoll, wenn Eltern ihr Kind früher als üblich in die Schule schicken. (Foto: dpa) Techniker Krankenkasse

Bonn/Marburg/dpa. - Lange Zeit war die Sache ganz einfach:Wer sechs Jahre alt wird, muss zur Schule. Prinzipiell gilt dieSchulpflicht ab diesem Alter nach wie vor. Allerdings sind nicht nurwegen des schlechten Abschneidens der deutschen Schüler bei derPisa-Studie immer öfter Forderungen nach einem deutlich früherenEinschulungstermin zu hören. Doch das kommt nach Einschätzung vonExperten nicht für jedes Kind in Frage. Die Entscheidung ist fürEltern nicht gerade einfacher geworden. Übervorsicht ist dabeigenauso falsch wie unüberlegte Schnellschüsse.

«Fest steht: Im Vergleich mit anderen Ländern werden Kinder beiuns ziemlich spät eingeschult», sagt Josef Kraus, Vorsitzender desDeutschen Lehrerverbandes in Bonn. «Mit durchschnittlich 6,8 Jahrenliegen wir weit hinten.» In den Niederlanden beispielsweise wird mitvier Jahren eingeschult. Andererseits seien die Schulsysteme auchnicht immer vergleichbar - in anderen Ländern gebe es in den Schulenfür die ganz Kleinen zum Teil eher ein Betreuungsangebot wie imKindergarten. «Bei der Grundschule wie jetzt in Deutschland wäre eineEinschulung aller Kinder mit vier Jahren aberwitzig.»

Das sieht auch Helga Lutz, Schulpsychologin am Schulamt Marburg,so: «Solange Schule so ist, wie sie ist, macht eine generelle früheEinschulung etwa mit vier Jahren keinen Sinn.» Den Druck, Kindersollten möglichst schnell lernen, möglichst früh fertig werden undmöglichst bald dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, sieht Krausohnehin kritisch: «Warum verkürzt man nicht auch noch dieSchwangerschaft?»

Allerdings stimme schon, dass es in Deutschland bei vielen Elternund Erzieherinnen die Tendenz gebe, Kinder möglichst lange behüten zuwollen - auch vor der Schule. «Mehr Bildungselemente im Kindergartenwären eine gute Alternative.» Und was das Einschulungsalter angeht,hielte Kraus es schon für einen «Riesenfortschritt, wenn es auf sechsJahre sinkt».

Das haben vor allem die Eltern so genannter Kann-Kinder in derHand, die also noch nicht schulpflichtig sind, aber schon in dieSchule könnten. Früher galt: Wer bis zum 30. Juni sechs wird, kommtin die erste Klasse, die anderen warten noch ein Jahr. Heute wird dasviel flexibler gehandhabt - und je nach Bundesland unterschiedlich.«Zum Teil können Kinder, die bis zum 31. Dezember sechs werden, nocheingeschult werden», sagt Kraus. Zum Teil spielen solche Termine garkeine entscheidende Rolle mehr.

Das ist beispielsweise in Hessen so, nicht zuletzt aufgrund derErfahrung, dass das reine Alter nicht viel aussagen muss: «DieEntwicklungsunterschiede bei Kindern sind umso größer, je jünger siesind», erklärt Ludger Busch vom schulpsychologischen Dienst inFriedberg/Taunus. «Es gibt Jüngere, die sind schon so weit, undÄltere, bei denen das noch nicht so ist.»

In jedem Fall müssen Eltern und Lehrer den Eindruck haben, dasKind sei «schulfähig», wie die offizielle Bezeichnung lautet. «Dasmeint eine Summe von Verhaltensmerkmalen und Leistungseigenschaften»,sagt Armin Krenz vom Institut für Angewandte Psychologie undPädagogik in Kiel. Häufig gehe es bei Schulfähigkeitstests an denGrundschulen zwar immer noch vorwiegend um «Wissensabfragung» - etwaeinen Satz mit sieben Wörtern nachzuerzählen. Viel wichtiger sindnach Einschätzung des Psychotherapeuten jedoch «Verhaltensmerkmale imBereich der emotionalen und sozialen Schulfähigkeit».

«Das heißt, das Kind muss ein soziales Regelverständnis haben,Anstrengungsbereitschaft zeigen, anderen zuhören und sie ausredenlassen können», erläutert Krenz. Es müsse auch mit Enttäuschungenfertig werden können und Vertrauen in die eigene Person haben. «Esgibt viele sehr pfiffige, aufgeweckte Kinder, die andererseits nochsehr kindlich sind», bestätigt Schulpsychologin Helga Lutz. «Schuleist aber auch körperlich anstrengend, man muss da schon längerdurchhalten können als im Kindergarten.» Wenn es Hinweise gibt, dassein Kind in der einen oder anderen Hinsicht Probleme haben könnte,sei es oft besser, mit der Einschulung noch zu warten.

«Wenn sich Eltern unsicher sind, hilft die Frage "Würde es demKind schaden, noch nicht zur Schule zu gehen?"», rät Lutz. Sinnvollsei es auch, sich die betreffende Schule anzusehen. Denn auch wiegroß die Schule ist und wie viele Kinder in den Klassen sind, kannbei der Entscheidung hilfreich sein. Sind in den Klassen sehr vieleKinder, spricht das eher dafür, mit der Einschulung von Kann-Kindernim Zweifel zu warten.

Die Kinder nach dem Motto «ein Jahr mehr Kindheit» einfach zuHause zu behalten, hält Josef Kraus aber für falsch: «Das kann auchein verlorenes Jahr sein», so der Vorsitzende des Lehrerverbandes.«Viele Kinder möchten ja lesen und schreiben lernen.»

In einem Punkt sind sich die Experten einig: In den Schulen musssich noch vieles ändern, damit den Erstklässlern der Anfang leichtergemacht wird. Denn Schulfähigkeit bedeute nach wie vor, dass dieSchüler den Anforderungen des Unterrichts entsprechen müssen. «Dabeimüsste sich eigentlich die Schule den Bedürfnissen der Kinderanpassen», sagt Helga Lutz, «nicht umgekehrt.»