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Einheitskinder Einheitskinder: Zwillinge feiern dreifach

Von ANTONIE STÄDTER 01.10.2010, 17:58

Halle/MZ. - Heute packen Nicole und Janine Kleindienst ihre Accessoires der Fußball-WM wieder aus: Flaggen, Hawaiiketten, Sonnenbrillen und Schminke in Schwarz-Rot-Gold. Denn am Abend feiern die Zwillinge aus Reinsdorf (Burgenlandkreis) mit Freunden in ihren 20. Geburtstag hinein. Und was passte da besser, dachten sich die beiden Fans von Motto-Partys, als ihrer Fete die Überschrift "Einheit" zu verpassen? - 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung und ihrer Geburt.

"Ich glaube, man macht sich mehr Gedanken über Ost- und Westdeutschland und die Einheit, wenn man an solch einem Tag geboren wurde", sagt Nicole Kleindienst, die drei Minuten ältere der beiden. Vor zehn Jahren, bei ihrem ersten runden Geburtstag, sei ihnen die historische Bedeutung dieses 3. Oktobers allerdings weniger wichtig gewesen, erzählt sie schmunzelnd: "Da haben wir uns einfach über den freien Tag gefreut." Und natürlich über die Geschenke.

Mittlerweile haben die beiden viel über die deutsch-deutsche Geschichte und das Leben in der DDR und der BRD gelesen und sich erzählen lassen. "Das Thema ist einfach wichtig", sind sie sich einig. Deshalb wollten sie auch gern zu den Blattmachern der MZ-Ausgabe vom Samstag gehören. Dafür konnten sich junge Leute bewerben, die 20 Jahre alt sind - oder sogar am 3. Oktober 1990 geboren wurden. "Das hat natürlich perfekt gepasst", sagt Janine Kleindienst. "Es ist spannend zu sehen, wie Artikel entstehen und platziert werden. Und es ist toll, dass wir mitentscheiden können."

Froh über die Freiheiten

Ihre Schwester, die am Freitag im Blattmacher-Team die Chefredakteurin war, hat bereits Erfahrungen im Journalismus gesammelt: Früher schrieb sie für die Schülerzeitung und für ein Lokalblatt, sie studiert in Dresden neben Soziologie auch Kommunikationswissenschaft, absolvierte an ihrem Studienort ein Zeitungspraktikum - und erwägt, später als Journalistin zu arbeiten. "Ich finde es wichtig, zu erfahren, wie die Leute über die 20 Jahre nach der Einheit denken", sagt sie. Für sie sei es unvorstellbar, wie es gewesen sein muss, in der DDR zu leben - "wo man in gewisser Weise abgeschottet war, sich das Studienfach nicht unbedingt aussuchen und nicht alles sagen konnte, was man dachte", so die junge Frau, die bereits ein Freiwilliges Soziales Jahr im Bereich Politik absolviert hat und ein Praktikum in Schweden, ihrem Traumland, plant. "Es ist sehr interessant, wie sich alles entwickelt hat und ich bin sehr froh über die Freiheiten, die ich heute habe", sagt Janine Kleindienst, die eher Zurückhaltende der beiden. Sie studiert in Jena Soziologie und Wirtschaftswissenschaften, wohnt dort - wie auch ihre Schwester in Dresden - in einer WG.

Dass auch heute noch Klischees über "Ossis" und "Wessis" bestehen, findet sie schlicht ärgerlich. "Es gibt etwa einige, die zwar hier studieren - aber klare Vorbehalte gegenüber dem Osten haben", erzählt sie. "Ich selbst denke überhaupt nicht darüber nach, woher jemand kommt." Auch in ihrem Freundeskreis spiele das keine Rolle. "Sicher sind Ost und West heute viel stärker Thema bei jenen, die noch im geteilten Deutschland gelebt haben", ist Nicole Kleindienst überzeugt. Doch auch sie habe erlebt, dass es unter Leuten ihres Alters Vorurteile gibt. "Man stößt im Alltag noch oft darauf. In der Schule hat mancher zum Beispiel von vornherein gesagt, im Westen würde er nicht studieren", erzählt sie. Die meisten ihrer ehemaligen Mitschüler wurden noch in der DDR geboren. Denn ein halbes Jahr nach ihrer Einschulung wurde die Ältere der beiden, die sich das Lesen schon vorab allein beigebracht hatte, in die zweite Klasse vorgestuft. Diese besuchte sie fortan mit ihrer Schwester Carolin, die ein Jahr älter als die beiden ist und heute Biologie studiert.

Das führte auch dazu, dass die beiden Gleichaltrigen schon als Schulkinder kein typisches Zwillingsdoppelpack abgaben. Auch, wenn bei ihnen bis heute mitunter schon ein Blick reicht, um zu wissen, was der andere denkt - und im nächsten Moment gerne mal loszuprusten. "Ich glaube, es war zur Einschulung, als wir zum letzten Mal das Gleiche anhatten - wir wollten das dann einfach nicht mehr", erinnert sich Janine Kleindienst. Heute borgen sie sich untereinander manchmal das eine oder andere Teil aus, aber identisch angezogen wird man sie kaum erleben.

Als Kleinkinder trugen sogar alle drei Schwestern mitunter die gleichen Sachen - weshalb sie nicht selten als Drillinge durchgingen. "Wir sind auch eher wie Drillinge aufgewachsen", berichten sie. Bis heute sind sie ein unzertrennliches Schwesterngespann. "Wir erzählen uns quasi alles." Erst im Sommer waren die drei Österreich-Fans zusammen im Urlaub in Salzburg.

Kein Zwillingsdoppelpack

Die zweieiigen Zwillinge sind dabei schon immer ziemlich verschieden gewesen. Die Ältere: blond, Linkshänderin und die Kontaktfreudige. Nicht selten wird sie vom Fernweh gepackt. "Ich entdecke gerne Neues", erzählt sie. "Ich brauche meine Leute um mich", sagt indes die Jüngere, die brünett ist und Rechtshänderin. Sie sei eher ein Familienmensch. Dass sie mit Soziologie einmal ein gleiches Fach studieren würden, hätte wohl niemand erwartet. Früher waren die Rollen einmal umgekehrt: Als Kind war Janine die Quirligere - während Nicole als die Ruhige galt.

Das war bei der Geburt schon so, erzählt Gabriele Kleindienst, die Mutter der beiden. Von den politischen Geschehnissen rund um den 3. Oktober bekam sie damals erst einmal wenig mit. Bereits kurz nach der Währungsunion im Juli, rund drei Monate vor dem errechneten Geburtstermin, musste die damals 30-Jährige, die damit als spätgebärend galt, wegen einer drohenden Frühgeburt das Bett hüten - und zwar in einer halleschen Klinik. "Damals hatten die Zimmer ja noch keine Fernseher", erinnert sie sich. Am Abend des 2. Oktober aber habe ihr Mann ihr einen kleinen Kofferfernseher gebracht - und Gabriele Kleindienst schaute sich bis in die Nacht hinein an, wie die Einheit ihren Lauf nahm.

Ob es die Aufregung war? Als am nächsten Morgen die Geburt losging, herrschte jedenfalls Hochbetrieb in dem Kreißsaal des Krankenhauses Halle-Dölau. Deshalb musste Gabriele Kleindienst die Kinder in einem Zimmer auf die Welt bringen, das für eine Zwillingsgeburt gar nicht vorgesehen war. Dort geht alles ganz schnell, der Vater schafft es nicht mehr zur Geburt. Bereits um 11.45 und 11.48 Uhr sind Nicole und Janine da. "Ich war sehr stolz, meine Zwillinge zu haben." Doch die Mädchen müssen in Wärmebettchen und sie selbst braucht einige Tage, um sich zu erholen. Das geeinte Deutschland? "War erst einmal zweitrangig", erinnert sie sich. Eine Sache jedoch habe ihr noch im Krankenhaus ziemlich schnell klar gemacht, dass nun bundesdeutsches Recht galt, lacht sie: "Die Geburtsurkunden waren deutlich teurer als bei unserer älteren Tochter."