Kommentar zur Kanzlerwahl Eine peinliche Lektion für Friedrich Merz
Die Pleite bei der Kanzlerwahl in Berlin weckt Zweifel, ob die schwarz-rote Koalition einen Neustart in stabilere Zeiten hinbekommt, meint MZ-Kommentator Kai Gauselmann.

Im alten Rom soll es üblich gewesen sein, dass bei Triumphzügen ein Sklave hinter dem siegreichen Feldherren auf dem Streitwagen stand, ihm einen Ehrenkranz über den Kopf hielt und wiederholt ins Ohr flüsterte: Memento mori – bedenke, dass du sterblich bist! Es war ein Ritual, um sicherzustellen, dass ein Triumphator im Angesicht der jubelnden Massen nicht die Bodenhaftung verliert. In einem gewissen Sinne hat der designierte Bundeskanzler Friedrich Merz am Dienstagmorgen bei der Abstimmungsniederlage im ersten Wahlgang einen ungewollten Memento-mori-Effekt erlebt – man darf gespannt sein, ob der CDU-Politiker daraus nun die richtigen Lehren zieht. Dann hätte seine historische Pleite wenigstens etwas Gutes.
Was die Motive der Abweichler sein könnten
Mindestens 18 Abgeordnete seiner schwarz-roten Koalition müssen Merz in der geheimen Wahl ihre Zustimmung verweigert haben. Solange sich keiner bekennt und seine Motive offenlegt, kann man über Beweggründe nur spekulieren. Denkbar ist, dass sowohl von der CDU/CSU als auch von der SPD Abgeordnete Merz einen Denkzettel verpassen wollte, weil sie entgegen ihrer eigenen Erwartung bei der Postenvergabe übergangen wurden. Denkbar ist auch, dass es einige Sozialdemokraten Merz heimzahlen wollten. Als Oppositionsführer hat der Sauerländer immer wieder die SPD hart attackiert, es dürften noch nicht alle Verletzungen verheilt sein.
Was Merz veräumt hat
Warum auch immer – Merz ist es offenkundig jedenfalls in den vergangenen Wochen nicht gelungen, Vorbehalte zu identifizieren, zu moderieren und zum Anführer dieser neuen Koalition zu werden. Er hat sich wohl darauf verlassen, dass alle Beteiligten selbstverständlich diese Koalition und ihn als Kanzler für vernünftig halten und mittragen werden. Das bedeutet sein Memento-mori-Effekt nun ganz konkret: Eine Kanzlermehrheit muss erst erworben und gepflegt, müssen die beteiligten Politiker überzeugt und auf eine einheitliche Linie eingeschworen werden. Peinlich, dass Merz diese öffentliche Lektion in Demut brauchte.
Man kann nach einem Stolperstart erfolgreich eine Regierung führen. Auch Reiner Haseloff (CDU) wurde 2016 und 2021 im Landtag jeweils erst im zweiten Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt. Wichtig ist jedoch, dass Merz nun signalisiert, dass er die Lektion verstanden hat und die Reihen seiner Koalition schließen kann.
Auch die neue Koalition ist beschädigt
Nicht nur Merz, auch die Koalition aus CDU, CSU und SPD hat an diesem Dienstag im Deutschen Bundestag Schaden genommen. Das Bündnis war ausdrücklich mit dem Anspruch angetreten, anders zu sein als die zuletzt heillos zerstrittene Ampel-Koalition. Tatsächlich steht es nun schlechter da als Rot-Gelb-Grün beim Start. Union und SPD haben sich große Aufgaben vorgenommen, die keinen Aufschub dulden. Die lahmende Wirtschaft, der Handelskonflikt mit den USA, der andauernde Ukraine-Krieg, die Migration: Wie soll die Koalition für diese großen Herausforderungen Lösungen finden, wenn sie schon bei der Kanzlerwahl rumpelt? Wie will Friedrich Merz denn Wladimir Putin und Donald Trump die Stirn bieten und die europäischen Regierungschefs hinter sich versammeln, wenn ihm das nicht mal bei seiner eigenen Koalition in Berlin gelingt?
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Dieser 6. Mai sollte nach den teils chaotischen Ampeljahren politisch einen Neustart markieren in stabilere Zeiten. Stattdessen wurde es ein Stolperstart. Und er weckt Zweifel daran, ob der zehnte Kanzler der Bundesrepublik und seine Koalition das erfolgreich übernehmen können, was sie mit dem Titel des Koalitionsvertrages versprochen haben: Verantwortung für Deutschland.