Duisburg Duisburg: Merkel besucht Problemviertel Marxloh
Duisburg - Seit klar ist, dass die Kanzlerin kommt, streifen Kamerateams ohne Ende durch Marxloh, durch Duisburgs ärmsten Stadtteil. Auf der Suche nach spektakulären Bildern, die das transportieren, was die Polizeigewerkschaft schon seit Wochen herausposaunt. Marxloh, die No-Go-Area, das Stadtviertel, das selbst die Deutsch-Türken am liebsten Hals über Kopf verlassen würden – und es zum Teil auch tun. Hier gibt es Schrottimmobilien, in denen Roma unter Extrembedingungen hausen und ganze Straßenzüge, die angeblich von Großfamilien aus Rumänien und Bulgarien regiert werden und in die sich die Polizei nur noch mit Verstärkung traut.
Duisburg-Marxloh, 19 000 Einwohner, davon mehr als 60 Prozent mit ausländischen Wurzeln. Grundschulen, in denen 90 Prozent aller Kinder der deutschen Sprache nicht mächtig sind, 16 Prozent Arbeitslosigkeit. Ausgerechnet diesen Stadtteil hat sich Angela Merkel ausgesucht, um am heutigen Dienstag im Hotel Montan mit 60 ausgesuchten Bürgern über deren Probleme im Rahmen des Gesprächsprogramms „Gut leben in Deutschland“ zu sprechen.
Vom Himmel ins Elend gefallen
Pater Oliver vom Orden der Prämonstratenser wird einer von ihnen sein. Seit September 2012 leitet er den Petershof, das Sozialpastorale Zentrum der Gemeinde St. Peter mitten in einem Stadtteil „mit besonderem Erneuerungsbedarf“. So heißt das im Verwaltungsdeutsch, wenn es um Quartiere geht, die in Wahrheit nichts anderes sind als die Trümmerhaufen einer verfehlten Kommunalpolitik.
Der Ortsname Marxloh leitet sich von Mersch für feuchtes Weideland und Loh für Hochwald ab. Aus beiden Wörtern wurde ab dem 17. Jahrhundert Marxloh.
Ein Großteil von Marxloh wurde in der Zeit der Industrialisierung des Ruhrgebiets zwischen 1880 und 1910 errichtet.
Ein massiver Strukturwandel setzte im von der Stahlindustrie geprägten Marxloh ab Mitte der 1970er-Jahre ein. Dies ging einher mit einem enormen Verlust an Arbeitsplätzen in der Großindustrie, aber auch bei Mittelstand und Gewerbe.
Pater Oliver, so sagen sie hier, sei einfach vom Himmel gefallen. Mitten ins Elend. Der Papst von Marxloh. Der kräftige Mann mit dem leicht ergrauten Bart schmunzelt verlegen, wenn er das hört. „Ich mache hier das, was die Kirche seit 2 000 Jahren macht. Ich öffne die Türe und helfe den Menschen, die zu uns kommen. Und daran wird sich auch nichts ändern.“ Das Problem ist nur: Es sind verdammt viele, die zu ihm und seinen vielen freiwilligen Helfern kommen.
Schätzungsweise 12 000 Menschen aus Südosteuropa, vor allem aus Bulgarien und Rumänien, leben in Marxloh, jeden Monat kommen 250 hinzu. Die meisten von ihnen haben keine Krankenversicherung. Nach Schätzungen der Stadt Duisburg sind es stadtweit 10 000 – und 4 000 Kinder, die nicht geimpft sind. Viele von ihnen stranden immer donnerstags in den Sprechstunden von St. Peter.
Betreut werden sie von Freiwilligen wie der Kinderkrankenschwester Sylvia Brennemann. Die 45-Jährige ist in Marxloh geboren, in Marxloh aufgewachsen, mit Marxloh verwachsen. Im Petershof versuchen sie gemeinsam zu retten, was kaum noch zu retten ist. Und müssen trotz allen Engagements feststellen, dass sie an ihre Grenzen stoßen. „Die Menschen werden hier alleingelassen“, sagt Schwester Sylvia mit Empörung. „Frau Merkel wird diese Baustellen auch nicht lösen.“
Die Stadt Duisburg sei einfach nicht in der Lage, sagt sie, die Fördergelder vernünftig zu investieren. „Wir haben hier genügend Wohnraum. Hier stehen Hunderte Wohnungen leer und ein großer Anteil davon ist in städtischem Besitz. Aber wir stopfen die Flüchtlinge lieber in Zelte.“ Auch die Zuwanderungswelle aus Rumänien und Bulgarien sei nicht überraschend gekommen, dennoch habe die Stadt zuvor mangels Kindern die Kindertagesstätten geschlossen. Es sei doch widersinnig, dass immer mehr Menschen Duisburg verlassen. „Jetzt kommen die Menschen. Die muss man doch nur so fördern, dass sie ein integraler Bestandteil dieser Gesellschaft werden.“
Im Kleinen scheint das zu gelingen. Weil immer noch nicht alle Kinder der Zuwanderer zur Schule gehen können, hat Pater Oliver im vergangenen Schuljahr sein Büro aufgegeben, damit dort eine Grundschulklasse mit rumänischen Kindern unterrichtet werden konnte. Das könne aber auf Dauer nicht die Lösung sein, sagt er.
Der Flyer des Petershof liest sich wie ein All-inclusive-Angebot für Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Er ist Anlaufstelle für Neuzuwanderer, Beratungsstelle, anerkannter freier Träger der Jugendarbeit, Notunterkunft, Kleiderstube, Tafelladen, Schulmaterialkammer, Obdachlosen-Café, ärztliche Untersuchungsstelle für nicht krankenversicherte Kinder, Kinderkirche, Gäste- und Exerzitienhaus, Gesundheitsvorsorgezentrum und Auffangstelle für straffällig gewordene Jugendliche.
Wenn Pater Oliver gefragt wird, was das noch mit katholischer Seelsorge zu tun habe, antwortet er gern mit einer Geschichte. „Ich habe in einer Messe mal die Älteren gebeten, doch zu erzählen, wer von ihren Großeltern aus Marxloh stammt. Das war praktisch keiner. Die Menschen sind alle ins Ruhrgebiet gekommen, weil sie eine Arbeit und eine Perspektive gesucht haben.“ Dann sagt er noch, dass man dringend über die Schleuser und ihre kriminellen Geschäfte reden müsse.
Von alldem wird die Kanzlerin bei ihrem Besuch in Marxloh nichts mitbekommen. Sie wird auf einem Sportplatz landen, zum Hotel Montan fahren und dort mit den Bürgern sprechen. Auch Pater Oliver macht sich darüber keine Illusionen. „Die Kanzlerin kann keine Kommunalpolitik machen“, sagt er. „Es wäre aber sehr gut, wenn wir ihr deutlich machen könnten, dass die Entscheidungen, die im Bund und in Europa getroffen werden, ganz konkrete Auswirkungen auf die Kommunen und Stadtteile wie Marxloh haben, die in dieser Dimension vielleicht keiner überdacht hat.“ In seiner Gemeinde versuche man alles, die Folgen dieser Politik zu lindern. „Wenn ich das richtig verstehe, kommt der Zuzug nach Duisburg aus begrenzten Regionen. Es macht sich ja nicht ganz Bulgarien auf, um ausgerechnet nach Marxloh zu kommen. Da muss man ansetzen. Warum können wir nicht die Gebiete in Bulgarien und Rumänien stärken, wo es offenbar so schlimm ist, dass die Menschen alle hierher kommen.“
Anonymer offener Brief
Die älteren Marxloher, die ihren Stadtteil noch aus Zeiten kennen, als das Stahlzentrum Duisburg zu den reichsten Städten in Deutschland zählte, haben sich anonym in einem offenen Brief über die Zustände rund um die Weseler Straße beklagt. Ihr Viertel sei längst in der Hand der Bulgaren und Rumänen, man werde bestohlen, beschimpft, belästigt, angespuckt. Selbst die nicht-deutschstämmige Nachbarschaft, die seit Jahren im Quartier lebe, hielten es dort bald nicht mehr aus. „Wir fänden es schrecklich,“ heißt es in dem Brief weiter, „wenn Frau Merkel der Eindruck vermittelt wird, dass es hier eigentlich gar nicht so schlimm ist, wie es die Medien darstellen. In Wirklichkeit ist es alles viel schlimmer.“
Das hört Pater Oliver nicht gern. „Natürlich ist hier nicht alles gut“, sagt er. Und dass die Polizei jetzt den Scherbenhaufen einer verfehlten Sozialpolitik zusammenkehren müsse. Die vermeintlich „bösen Clans“ aus dem Libanon seien aber in Wahrheit eine Gruppe von Jugendlichen, die bei der Gesundheitssprechstunde der Gemeinde am Donnerstag für die Helfer auch schon mal den Grill anwerfen.
„Ich bin einer der wenigen, der mit denen spricht. Letzte Woche fuhr ich nach Hause, da haben mich ein paar dieser libanesischen Jungs angehalten und gesagt: Pater Oliver, da vorne ist das Fernsehen, kommen Sie mal mit, damit die keinen Blödsinn drehen. Die sind ja nicht doof, die nehmen natürlich wahr, dass angeblich alle Angst vor ihnen haben. Sogar die Polizei. Das war schon eine witzige Situation.“