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Die letzten Zeitzeugen Die letzten Zeitzeugen: Jüdin erzählt Schülern von der NS-Zeit

08.11.2013, 10:22
Die Holocaust-Überlebende Liora Seewi posiert in Tübingen für den Fotografen.
Die Holocaust-Überlebende Liora Seewi posiert in Tübingen für den Fotografen. dpa Lizenz

Tübingen/dpa. - Leise und ohne jede Bitterkeit in der Stimme erzählt Liora Seewi von den schlimmsten Jahren ihres Lebens. Sie erzählt vom Hunger während des Weltkriegs, von Bombennächten im Luftschutzkeller und von den Übergriffen der Nazis auf ihre jüdische Familie. Die Schüler in der Freien Waldorfschule in Tübingen sind ganz still geworden. „Ich war damals so alt wie ihr heute“, sagt die 88-jährige Holocaust-Überlebende.

Die Schüler kennen den Zweiten Weltkrieg und die Judenverfolgung aus ihren Geschichtsbüchern. Doch Seewi gibt der Geschichte ein Gesicht. Genau darum geht es der 88-Jährigen, die eigentlich gar nicht gern im Rampenlicht steht. Darum kommt sie immer wieder aus Jerusalem zurück nach Deutschland und erzählt ihre Geschichte. Schon bald werde es keine Zeitzeugen mehr geben, sagt sie. Zum 75. Jahrestag der Pogromnacht an diesem Samstag ist sie deshalb im Moment wieder zu Gast in zahlreichen Schulen in Baden-Württemberg.

Woran sich Seewi erinnert, sind weniger die großen Ereignisse der Weltgeschichte. Von den brennenden Synagogen und den zerstörten jüdischen Geschäften in der Pogromnacht etwa habe sie gar nicht viel mitbekommen. „Meine Mutter hat immer versucht, mich zu schützen. Am Abend der Pogrome hat sie mich gar nicht auf die Straße gelassen.“

Es sind die kleinen Geschichten aus Seewis Alltag, die die Schüler spüren lassen, was Juden damals erlebt und durchlitten haben. Sie erzählt, wie sie als begeisterte Schwimmerin plötzlich als einzige aus der Klasse nicht mehr mit den „Ariern“ ins Schwimmbecken durfte. Sie erzählt davon, wie in der Schule im Fach „Rassenkunde“ die angeblichen Merkmale der jüdischen „Untermenschen“ auf dem Stundenplan standen. „Da hat sich die ganze Klasse zu mir umgedreht und geguckt, ob das bei mir auch so war.“

Und sie erzählt von einer Bombennacht im Luftschutzkeller, als eine Nachbarin schimpfte: „Was sucht die Jüdin denn hier unten?“ Seewi hat die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten überlebt - doch viele ihrer Verwandten wurden deportiert und ermordet.

Aber es gab auch andere Erfahrungen während des Weltkriegs. Die 88-Jährige erinnert sich zum Beispiel an eine Bäckerin. „Die hat uns immer etwas zugeschoben, selbst wenn wir als Juden längst keine Essensmarken mehr hatten.“ Sie erzählt von Mitschülerinnen, die aus überzeugten Nazi-Familien kamen - und trotzdem mit ihr, der Jüdin, befreundet blieben.

Als Seewi mit ihrer Lebensgeschichte ans Ende kommt, herrscht zunächst betroffenes Schweigen bei den Schülern, dann brandet Applaus auf. Schließlich traut sich ein Junge vor und stellt eine Frage: „Sie sitzen da und sehen ziemlich glücklich aus. Wie können Sie noch so glücklich sein, wenn sie etwas so Schreckliches erlebt haben?“ Seewi lächelt. „Ich habe in der Nazizeit neben all dem Schlechten eben auch sehr viele couragierte Menschen kennengelernt. Das hat mich aufrechterhalten.“

Geschichtslehrer Herbert Brückmann und Ruben Siedner, der Seewis Reise nach Deutschland organisiert hat, sind zufrieden. „So eine Person zu erleben, das wirkt einfach auf die Schüler“, sagt Brückmann. Früher habe man noch die Hausaufgabe stellen können, die Großeltern nach ihren Erinnerungen zu befragen - doch in vielen Familien gebe es heute schon längst keine Zeitzeugen mehr. „Diese wichtige Quelle ist bald für immer weg“, sagt der Lehrer.

Seewi traut sich deshalb immer wieder vor Schulklassen - obwohl sie das Rampenlicht nicht mag und immer riesiges Lampenfieber hat, wie sie sagt. Sie will reden und Zeugnis geben, solange sie kann.