Die Erste im Westen Die Erste im Westen: Wie diese Frau aus Sachsen-Anhalt 1989 Geschichte schrieb

Gommern/Marienborn - Bevor wir uns verabschieden, beugt sich Annemarie Reffert über den großen Globus im Hausflur. Ein paar Augenblicke später führt sie mich ins Arbeitszimmer, in dem eine Weltkarte hängt, auf der all die Länder markiert sind, in denen die heute 76-Jährige gewesen ist. Neuseeland, Australien, Grönland, USA, Südafrika, Namibia. Sogar die Antarktis hat Annemarie Reffert bereist. Und das ist noch nicht alles. „Europa ist ein bisschen liegen geblieben“, erklärt sie.
Die Ärztin ist, was man eine Person der Zeitgeschichte nennt. Wie spätere Recherchen ergaben, ist sie die erste, die am 9. November 1989 die innerdeutsche Grenze überschritt - nicht in Berlin, sondern an der Grenzübergangsstelle Marienborn. Als Annemarie Reffert losfuhr, sagte ihr Mann launig: „Bring mir eine Büchse Bier mit.“ Eine Zeitung titelte prompt: „Frau aus Magdeburg wollte nur Büchse Bier kaufen.“ Gerecht wird ihr das nicht.
Annemarie Reffert studierte in Budapest Medizin
Wenn sie über ihr Leben in der DDR spricht, scheint da ein sattes Leben auf. Sie studierte Medizin in Budapest und Magdeburg, wurde Chefärztin am Krankenhaus Gommern bei Magdeburg. Später heiratete sie, bekam einen Sohn und eine Tochter. Die Refferts hatten ein Haus und zwei Autos.
Während andere Reisefreiheit forderten und damit die Reisefreiheit gen Westen meinten, machte die Familie von der ja ebenfalls keineswegs unbeschränkten Reisefreiheit gen Osten Gebrauch. Sie fuhren in die Tschechoslowakei, nach Polen und Russland. „Uns hat in der DDR nicht alles gepasst. Am Eisernen Vorhang war die Welt für uns zu Ende“, sagt die 76-Jährige. „Aber wir haben uns arrangiert und waren zufrieden. Warum sollten wir das Risiko einer Flucht auf uns nehmen? Es konnten ja auch nicht alle die DDR verlassen. Für uns stand fest: Wir bleiben hier.“
Was sie am 9. November tat, war insofern einigermaßen überraschend. Schon nachmittags hörte Annemarie Reffert im Radio, dass die SED an neuen Reisebestimmungen arbeite. Und abends schaltete sie wie üblich den Fernseher ein und schaute alle Nachrichtensendungen: um 19 Uhr „heute“ im ZDF, um 19.30 Uhr die Aktuelle Kamera im DDR-Fernsehen, um 20 Uhr die Tagesschau in der ARD.
Schabowskis Worte machten Grenzübertritt nach Westen möglich
Alle Sender verbreiteten, was SED-Politbüro-Mitglied Schabowski soeben erklärt hatte: dass der Grenzübertritt nach Westen möglich sei - mit dem legendär gestotterten Nachsatz: „Das tritt… Nach meiner Kenntnis… ist das sofort.“ Annemarie Reffert war neugierig und ihre Tochter Juliane erst recht. Sie suchte, was 15-Jährige suchen: das Abenteuer.
Beide bestiegen ihren Wartburg, fuhren die 18 Kilometer bis Magdeburg, anschließend weitere 20 Kilometer bis Marienborn und dann noch einmal zehn Kilometer bis Helmstedt. Ein Grenzer sagte: „Sie sind ja schneller, als die Polizei erlaubt.“ Ein Herr vom Zoll erklärte: „Von mir aus können Sie weiter fahren; Sie haben ja nichts zu verzollen.“ Ein zweiter Grenzer gab die definitive Erlaubnis zur Durchfahrt.
Unterdessen waren längst Journalisten an der innerdeutschen Grenze eingetroffen. Eine Reporterin traf Annemarie Reffert und fragte, ob sie denn jetzt häufiger kommen wolle. Die Antwort sagt einiges über deren damalige Haltung. Die Frau mit dem Kurzhaarschnitt sagte vom Lenkrad aus ruhig und bestimmt in die Kamera: „Vielleicht besuchsweise, um mal das Leben bei Ihnen anzusehen, aber niemals ganz. Wissen Sie, Sie sind eine ganz andere Gesellschaft. Ich habe keine Meinung, bei Ihnen zu leben.“ Die Nüchternheit stand in krassem Gegensatz zur Euphorie jener Menschen, die abends die Bildschirme bevölkerten. Frau Reffert war da erst mal nicht zu sehen.
Erster Kurzbesuch im Westen dauert nur zwei Stunden
Als sie drüben waren, sorgte sich die Tochter, dass beide vielleicht nicht mehr zurückkommen würden - nach Hause, in die DDR. Die Sorge hatte die Mutter nicht, berichtet aber von der Angst, dass im Westen etwas schiefgehen könnte, und sie erst entspannt gewesen sei, als der Wartburg wieder ostdeutschen Boden erreichte.
Rund zwei Stunden waren Juliane und Annemarie Reffert unterwegs und um halb elf wieder daheim - ohne Bier übrigens. Sie hatten nicht das nötige Westgeld, um es zu bezahlen. Am nächsten Tag riefen Kollegen Annemarie Reffert zu: „Die Grenze ist auf!“ Was sie nicht wussten: Dass Reffert die Probe aufs Exempel da schon gemacht hatte.
Im Herbst 2019 lebt Annemarie Reffert in der kleinen Ortschaft Panketal, eine halbe Stunde nördlich von Berlin. Die Ärztin hat da seit zwei Jahren einen Bungalow, den sie allein bewohnt. Die einst 1,62 Meter große Frau geht gebückt von einem chronischen Rückenleiden, das sie noch ein wenig kleiner erscheinen lässt. Umso größer aber erscheint im Kontrast ihr Leben.
Natürlich ist sie immer mal wieder gen Westen gefahren, genau genommen schon tags drauf. Abgesehen davon hat die Familie ihr Leben einfach weitergelebt. Frau Reffert blieb Ärztin, trat 1990 in die SPD ein und vertrat die Partei bis 2006 im Stadtrat in Gommern. 2008 wurde sie pensioniert, war aber noch bis vor ein paar Monaten als Notärztin aktiv. Herr Reffert, zunächst Reparaturschlosser, dann Ingenieur, ging 2002 mit 60 in Frührente und starb 2012.
Die abenteuerlustige Tochter Juliane studierte Psychologie und ist heute Personalchefin des St.-Joseph-Krankenhauses in Berlin-Tempelhof. Sohn Thilo wiederum studierte wie die Mutter anfangs Medizin und war bei der Nationalen Volksarmee, als die Mauer fiel. Schließlich brach er das Medizin-Studium ab, schloss ein Studium der Theaterwissenschaften und der Neueren Deutschen Literatur an. Mittlerweile arbeitet Thilo Reffert als freier Autor. Den Ausflug der Mutter nach Helmstedt vertonte der Sohn 2009 in dem Hörspiel „Die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle“. Zum Lohn dafür bekam er den renommierten Hörspielpreis der Kriegsblinden.
Familie im Großformat
Weil die Kinder in Panketal wohnen, verkaufte die Mutter das Haus in Gommern und zog 2017 in unmittelbare Nachbarschaft. Ein paar Meter vom Globus entfernt hängt über einem Türrahmen ein großformatiges Bild der Familie, mit Kindern, Schwiegersohn und Schwiegertochter sowie den vier Enkelkindern, die zwischen zehn und 21 Jahren alt sind.
Ja, an jenem 9. November ließ Annemarie Reffert Distanz zum Westen erkennen. Nun sagt sie, die Ostdeutschen seien mit falschen Vorstellungen in die Einheit gegangen und der westdeutsche Einheitskanzler Helmut Kohl habe kein Konzept gehabt. Die Einheit sei gleichwohl „ein Glücksfall“.
Unlängst hat sie übrigens noch mal eine große Reise unternommen, ist mit einer Enkeltochter nach Kairo geflogen und dann den Nil runter geschippert. Auch nach 30 Jahren sitzt sie ungern still. Das ist bei aller Veränderung geblieben. (mz)
