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Deutschlands Nachwuchs Deutschlands Nachwuchs: Kinder sehen zu viel fern und bewegen sich zu wenig

Von Andrea Barthélémy 07.09.2004, 06:52
Eltern sollten ihre Vorbildfunktion nicht vernachlässigen: Dicke Kinder sitzen vor allem zu häufig und zu lange vor dem Fernsehgerät. (Foto: dpa)
Eltern sollten ihre Vorbildfunktion nicht vernachlässigen: Dicke Kinder sitzen vor allem zu häufig und zu lange vor dem Fernsehgerät. (Foto: dpa) dpa

Berlin/dpa. - Beobachtung auf einem Indoor-Spielplatz: Ein etwasiebenjähriges Mädchen klettert umständlich einen fünfsprossigenTurnbock hoch. Es wiegt mindestens 30 Kilogramm und versucht, die ingeblümten Leggings steckenden Beine auf die oben angelegte Holzbankzu schwingen und herunterzurutschen. Es scheitert. DeutschlandsKinder sind oft zu dick, gucken zu viel TV und lesen weniger denn je - so lauten gängige Klischees. Doch aktuelle Studien lassen wenig Zweifel daran, dass sie in vielen Fällen stimmen. Und: Der Abstand zwischen den Besten und den Schlechtesten wird immer größer.

Was auf den ersten Blick wie ein Wust verschiedener Problemeaussieht, hängt durchaus miteinander zusammen. «Etwa ein Fünftelaller Schulanfänger ist bereits viel zu dick», berichtet Antje Gahl von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Ein weiteres Fünftel steht an der Schwelle zur Fettleibigkeit. «Es gibt noch keine bundesweit verknüpften Zahlen, aber viele Einzeluntersuchungen mit ähnlichen Ergebnissen», sagt Gahl. Im Osten Deutschlands ist die Tendenz sogar noch stärker: Allein zwischen 1975 und 1995 hat sich etwa in Jena die Zahl übergewichtiger Schulkinder verdoppelt.

Familiäre Vorbilder, falsche Ernährung und vor allem mangelndeBewegung haben die Wissenschaftler für diesen Trend ausgemacht. Womit das Thema Sport ins Spiel kommt: Der fünfte Bewegungs-Check-Up an deutschen Schulen zeichnet ein ernüchterndes Bild. «Allein zwischen den Erhebungen 2001 und 2003 ist wieder ein signifikanter Rückgang der körperlichen Fitness zu verzeichnen», berichtet Sportwissenschaftlerin Yvette Zens vom Wissenschaftlichen Institutder Ärzte Deutschlands (WIAD).

Die rund 7000 teilnehmenden 11- bis 15-jährigen Schüler musstendazu den Münchner-Fitness-Test absolvieren und beim Ballprellen,Rumpfbeugen, Zielwerfen, Standhochsprung, Klimmzug-Hängen oderStufensteigen ihre Koordination, Dehnbarkeit, Kraft und Ausdauerbeweisen. «Vor allem bei der Ausdauerleistung der Mädchen gab eserneut deutliche Einbrüche», beklagt Zens. Dabei hatte sich bereitszwischen 1986 und 1996 die motorische Fitness der Schulkinder um biszu 20 Prozent verschlechtert und dümpelt seitdem auf niedrigemNiveau.

Immer deutlicher werden seitdem zwei Dinge: «Es gibt vor allem beiden Jungs einen deutlichen Hang zur Selbstüberschätzung», sagt Zens.Zwei Drittel der Jungen und gut die Hälfte der Mädchen hielten sichfür wesentlich fitter, als dann der Test bewies. Zudem klafft dieSpanne zwischen den Unsportlichen und den Sportlichen, die zum großenTeil auch in Vereinen aktiv sind, immer weiter auseinander. Aber auchein Lichtstreif scheint am Horizont: «Unsere Untersuchungen habengezeigt, dass dem Schulsport eine immense Bedeutung zukommt - schoneine zusätzliche, dritte Sportstunde pro Woche kann hier Wunder tun.»Aktionen wie das im Rheinland anlaufende Programm «Schulen inBewegung» sollen dabei helfen.

Ein Grund für die dick und krank machende Bewegungsarmut ist derFernsehkonsum. Auch 2003 nahm die Flimmerkiste Platz eins derFreizeitbeschäftigungen der Kinder ein, heißt es in der KIM-Studie2003 des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest. Von denknapp vier Stunden Freizeit, die 6- bis 13-Jährige im Durchschnittpro Tag haben, verbringen sie mehr als eineinhalb Stunden - fast 100Minuten - vor dem Fernseher. Oer anders ausgedrückt: 78 Prozent tunes jeden oder fast jeden Tag. Im Vergleich dazu: Nur 13 Prozentgreifen quasi täglich zum Buch - und das nur für etwa eine halbeStunde.

Aber auch hier ein Hauch von Harry-Potter-Zauber: Während 2002noch 39 Prozent der Kinder am liebsten fernsah, waren es 2003 nurnoch 34 Prozent. Umgekehrt nahm die Leselust um fünf Punkte zu: Mehrals die Hälfte der Kinder (55 Prozent) gab an, sehr gerne oder gerneBücher zu lesen. «Wir freuen uns natürlich über kleine Fortschritte,aber eine Entwarnung ist das beileibe nicht», sagt Christoph Schäfervon der Stiftung Lesen. Auch in Sachen Leseverhalten zeige sich einePolarisierung: Einige wenige lesen «Harry Potter» sogar auf Englisch,ein Gros versteht selbst einfache Texte kaum.

Für die Liebe zum Lesen sei das elterliche Vorbild, das Vorlesenund das Reden über Bücher unerlässlich, betont Schäfer. Die Schulehingegen, so fand die Erfurter Professorin Karin Richter heraus, kannim schlimmsten Fall sogar kontraproduktiv sein: «Unsere Befundedeuten darauf hin, dass der Deutschunterricht wenig Folgen für denAufbau einer Lesemotivation hat, weil die Literaturauswahl und dieArt der Literaturbehandlung an den Interessen junger Menschenvorbeigehen.»