Deutsches Sozialsystem Deutsches Sozialsystem: Mutter zog mit drei Kindern nach Thailand

Bangkok/Frankfurt/Main/dpa. - Die aufgehende Sonne färbt den Himmel rot, durch die Luft hallen Schreie eines Seeadlers. Wie jeden Morgen kündigt sich die erste Flut an, doch heute ist das Rauschen der Wellen sogar bis zu den Bambushütten zu hören. Ein neuer Tag auf der thailändischen Insel Koh Lipe, ein neuer Tag im Paradies.
Für die meisten Kinder im fernen Deutschland heißt es um dieseUhrzeit: aufstehen, anziehen, frühstücken und ab in den Kindergarten!Nicht so für die Geschwister Elisabeth (6 Jahre), Jona (3) und Lulu(16 Monate). Die quirligen Blondschöpfe springen hinaus auf den Platzvor der Bambushütte. Schon kritzeln sie auf Papier und bemalenMuscheln. Mutter Angelika (36) schaut interessiert zu. Die vierkommen aus Frankfurt am Main. Auf Koh Lipe machen sie keinenFamilienurlaub - sie haben hier ihr zweites Zuhause entdeckt. Und dasseit drei Jahren. Nur in den Sommermonaten kehren sie in diehessische Heimat zurück.
Bambushütten, drei kleine Restaurants, zwei Strände, wenigTouristen - Koh Lipe ist etwa vier Quadratkilometer groß, liegt imSüdwesten Thailands und ist die einzige bewohnte Insel im Turatao-Marine-Nationalpark. Bei guter Sicht kann man bis zur Küste Malaysiassehen. Zweihundert Maois leben auf der Insel in dörflicherGemeinschaft von der Fischerei. Ansonsten bevölkern knapp fünfzigständig wechselnde Rucksackreisende und eine Handvoll Thailänder dasfriedliche Eiland.
Von Orten wie diesem wissen Pauschalurlauber nichts. Wohl auch,weil der Weg dorthin viel zu lang und anstrengend ist: Von denHochburgen des Thailand-Tourismus wie Phuket oder Koh Samui ausdauert die Reise per Bus, Fähre und Boot mindestens zwei Tage. Wer inden Morgenstunden mit dem schmalen Langboot ankommt, die letztenMeter durchs Wasser steigt und am Strand entlang auf der Suche nacheiner Übernachtungsmöglichkeit läuft, kann die einheimischen Kinderbeobachten, wie sie friedlich im flachen Wasser spielen. DarunterElisabeth, Jona und Lulu. Die Sprache scheint beim Spielen keinProblem zu sein, die andere Hautfarbe schon gar nicht. Munterplappern sie drauflos, notfalls wird gestikuliert oder an den Händengezogen.
«Für Kinder ist alles ein Spiel, gerade hier.» Gründe für einLeben auf der Insel findet Mutter Angelika reichlich. Die häuslichenArbeiten reduzieren sich auf ein Mindestmaß. Und: Die Kinder laufenfast den ganzen Tag lang halb nackt rum. Ständiges Wäschewaschenfällt flach. «Das spart Zeit, die ich ganz mit der Familie verbringenkann», freut sich die Mutter.
Wieder ertönt ein Vogelschrei. Die Sonne ist gestiegen, der Himmelmittlerweile blau. Die ersten Strandläufer tauchen auf, einheimischeFrauen schleppen große Waschkörbe zum Wasserplatz zwischen denBambushütten. Auf den Hüften sitzen ihre Babys. «Kinder spielen einegroße Rolle bei den Menschen hier.» Angelika bewundert die Maois, wiesie mit ihren Kleinsten umgehen. Sie gehören zur Familie, sind immerdabei, immer zu sehen. «In Deutschland leben Kinder oft von der Weltder Erwachsenen getrennt.»
Kaum hört man hier ein lautes Wort. Schimpfen und Schlagen isttabu. Quengelt ein Kind, geht einer der Erwachsenen mit ihm spielenoder bringt es ins Bett. «Das hat mich sehr beeindruckt. Deshalbleben wir hier», erklärt die Frankfurterin. Angelika gibt sichgelassen, wirkt aber auch ein wenig nachdenklich. Ihr ist bewusst,dass die Wiedereingewöhnung in den deutschen Alltag unausweichlichist und nicht einfach sein wird.
Ihr Blick schweift aufs Meer, dort taucht mit lautem Tuten dieFähre aus Satun, einer kleinen Hafenstadt rund drei Schiffsstundenvon der Insel entfernt, am Horizont auf. Sie denkt an Probleme, diein Deutschland auf sie warten und vor denen sie auf Dauer nichtweglaufen kann: Ihr Aussteigerleben wird nur von den Behördenfinanziert, solange sie deren Auflagen erfüllt, sprich: Sie muss der Fürsorgepflicht für ihre Kinder nach deutschen Gesetzen nachkommen, und dazu gehört auch die Schulpflicht. Noch erhält sie eine so genannte Unterhaltsvorschussleistung vom Jugend- und Sozialamt, weil der Vater der Kinder nicht zahlt. Und von diesen rund 1000 Euro im Monat leben die vier.
«Nach der Geburt meiner ältesten Tochter Elisabeth beschloss ich,auch mit meinem Kind das zu tun, was mir Spaß macht: reisen. Dabeihaben wir immer den idealen Ort zum Leben gesucht.» Deutschland warAngelika zu kalt. Sie schnappte sich ihren Nachwuchs und reiste mitBus, Schiff oder Flieger in Länder wie Griechenland, Portugal,Frankreich und Ungarn. Auch «Auroville» in Indien - eine Kleinstadtim Süden des Subkontinents, in der Familien aus aller Weltgemeinschaftlich leben - hat sie Augenschein genommen. Doch irgendwiewar das nicht ganz nach ihrem Geschmack.
«In Indien gibt es so viele Menschen», sagt Elisabeth, die sichhuckepack auf ihrer Mutter eine gute Position erobert hat undaufmerksam den Erzählungen folgt. Danach besuchte die reiselustigeFamilie in Tirol eine Selbstversorgungshütte, in Bayern einenalternativen Bauernhof. Und plötzlich landete sie, nachdem sie schonein paar Mal auf Koh Lipe war, wieder hier. «Das ist einfach unserDing.»
Nicht selten wird Angelika mit Fragen konfrontiert: Ob sie keineAngst habe, mit den Kindern so viel zu reisen? Ob es nicht gefährlichsei, auf einer fremden Insel zu wohnen? Und ob das alles ohne Manngehe? Und wie sollen die Kinder eigentlich wieder in Deutschlandintegriert werden? Doch da winkt die 36-Jährige ab. «Kinder gibt esdoch überall, wo ist das Problem?»
Ihre drei Sprösslinge seien flexibel, könnten immer einen Wegfinden, um sich zu verständigen. «Sie schlafen in Bambushütten so gutwie im Bett in Deutschland.» Angelika redet sich Rage. «Diemedizinische Versorgung ist überall gleich gut. Natürlich haben wirhier den Vorteil, zahlende Touristen zu sein.» Doch die Schulpflichtihrer Kinder bereitet ihr schon einiges Kopfzerbrechen. Elisabethmüsste demnächst mit der 1. Klasse beginnen. Jona hat noch etwasZeit.
Probleme, die beim Jugendamt im fernen Frankfurt am Main von IngeKöhler ernst genommen werden: «Eine Mutter sollte an die Zukunft derKinder denken», erklärt die stellvertretende Amtsleiterin. «Mitfinanzieller Unterstützung kann auch niemand rechnen, der sich nichtin deren Geltungsbereich aufhält.» Die Frau mache sich strafbar, wennsie ihre Kinder der Schulpflicht entzieht, mahnt Köhler.
Etliche Menschen begegneten Angelika mit Unverständnis, nach ihrenWorten vor allem deutsche Frauen. Und auch nicht alle Einheimischensind begeistert von Aussteigern, die sich auf ihrem Eilandeingenistet haben. Es gibt aber auch Menschen, die deralleinstehenden Frau einen gewissen Respekt zollen. Weil sie denAusstieg auf Zeit mit ihren quietschfidelen Kleinen so lebt, wie siees will.
Eine leichte Unsicherheit ist dennoch bei der jungen Frau zuspüren: «Vielleicht gehen wir ganz nach Frankfurt zurück. Vielleichtauch in die Pfalz, dort scheint am meisten die Sonne.» Zärtlichstreicht sie ihrem Sohn durchs blonde Haar, der nachdrücklich denKopf schüttelt. «Ich will hier bleiben.» Wer mittags das Schreien undLachen der Kinder beim Versteckspielen im Dschungel hört, kann sichvorstellen: Das Leben auf Koh Lipe erscheint den Geschwistern wie einAbenteuer, eine Reise mit Pippi Langstrumpf ins Taka-Tuka-Land.Spätere Probleme der Kinder beim Einleben in Deutschland sindabsehbar.
Mittlerweile ist es sehr heiß geworden, und die kleine Familieflüchtet sich unter die schattigen Palmen des nahe liegendenRestaurants. Mittagessen! Kokosmilchsuppe, gebratene Bananen,Pfannkuchen, Orangensaft. Klingt gesund und ist vor allem günstig.
Angelika hat in der Bambushütte keine Feuerstelle zum Kochen, fürsEssen in den Restaurants legt die Familie im Schnitt fünfzehn Eurotäglich auf den Tisch. Später gibt es noch Ananas, die täglicheRation Bananen ist obligatorisch. Diese Vitaminstöße, Baden im 32Grad warmen Meer und viel Sonne tun den Kindern gut. «Einzig Jonahatte mal vor zwei Jahren ein bisschen Fieber», erklärt die Mutter.
Die geringen Kosten sind ein Vorteil des Lebens unter Palmen. Mitden Zahlungen vom Frankfurter Jugend- und Sozialamt kommt die Familieim Monat über die Runden. Alle vier Wochen machen sich die vier aufden Weg nach Satun, um Bargeld abzuheben. «In Frankfurt würde ich das Dreifache für Schuhe, Klamotten, Bahntickets, Spielsachen und Miete brauchen.» Diese beträgt für die Bambushütte mit zwei Matratzen, einer Waschecke mit fließendem Wasser und Toilette sechs Euro pro Tag.
Am teuersten sind noch die Ausflüge zu anderen Inseln. OderSchnorcheltouren, für die ein kleines Boot mit Fahrer für knapp zehnEuro gemietet werden muss. «Manchmal nimmt uns aber auch derRestaurantbesitzer umsonst mit», quakt Jona dazwischen. Und dannleistet sich Angelika für die Jüngste auch mal eine Babysitterin.Eine 60-jährige Frau aus dem Dorf nimmt Lulu für zwei Euro undfünfzig Cent pro Tag morgens mit, legt sie zum Mittagsschlaf zu ihreneigenen Kindern und bringt sie abends zurück.
Die Abendstunden gehören zur schönsten Zeit auf Koh Lipe. Wiederfärbt sich der Himmel golden, und eine Horde Kinder spielt am Strand.Die Fischer kehren mit ihren Fängen zurück, die Bedienungen derRestaurants stellen Stühle und Tische direkt ans Meer, zünden Kerzenan. Die meisten Bewohner der Bambushütten kommen zum Essen an denStrand.
Ganz vorn am Wasser hat die Frankfurter Familie Platz genommen.Ein frisch gebratener Fisch in Currysoße liegt auf dem Tisch. Nur einpaar Moskitos stören die Idylle. Und die nackte Lulu, die gerade denPlastikstuhl nass gemacht hat. Kurzerhand schnappt Angelika ihrejüngste Tochter mit dem Stuhl, läuft ins Meer und zieht beide durchsWasser. Lachend setzt sie sich wieder an den Tisch: «Zu Hause hättedas Windelwechseln inklusive An- und Ausziehen mindestensfünfzehn Minuten gedauert.» Doch die derzeitige «Leichtigkeit desSeins» ist ein Traum, aus dem es irgendwann ein Erwachen gibt, unddas weiß auch Angelika.
