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Demokratie in Deutschland Demokratie in Deutschland: Viele Arme und Ungebildete sind wahlmüde

11.12.2013, 18:09
Ein einzelner Mann sitzt in einer von drei Wahlkabinen in Lutherstadt Wittenberg und gibt seine Stimme zur Bundestagswahl ab.
Ein einzelner Mann sitzt in einer von drei Wahlkabinen in Lutherstadt Wittenberg und gibt seine Stimme zur Bundestagswahl ab. dpa Lizenz

Berlin/MZ - Wählen oder nicht wählen? Die Frage sei „nicht wirklich wichtig“, findet der TV-Philosoph Richard David Precht. Meisterdenker Peter Sloterdijk hält „für einen gefahrenbewussten Beobachter“ keine Partei für wählbar. Und der Autor Uwe Tellkamp („Der Turm“) machte sich in einer Umfrage des Wochenblatts „Die Zeit“ über die Frage nach seiner politischen Präferenz nur noch lustig: „Natürlich wähle ich die Partei, die uns direkt in die Ausfahrt Schlaraffia leitet.“

Eine Minderheit von wahlmüden Schriftstellern und Intellektuellen löste vor der Bundestagswahl eine mittlere Debatte aus. Die zum Teil bekannten Namen lenkten den Blick jedoch in eine falsche Richtung. Die überwiegende Mehrheit des gebildeten Deutschland geht heute so treu zur Wahl wie früher die katholischen Landfrauen. Keinen Sinn, am demokratischen Prozess teilzunehmen, sehen dagegen immer mehr Menschen, die von Peter Sloterdijk oder Uwe Tellkamp noch nie etwas gehört haben. Politisch ausgedrückt: Arme und Ungebildete.

Motive und Herkunft

Das bestätigt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. Unter der Überschrift „Prekäre Wahlen“ hat sie Wähler, Nichtwähler, ihre Motive und ihre soziale Herkunft untersucht. Der Befund ist erschütternd: Wählen oder nicht wählen - das ist in Deutschland vor allem eine soziale Frage: „Einkommens- und Bildungsschwache bleiben den Wahlen eher fern, während die höher gebildeten und sozial besser situierten Wahlberechtigten sich überdurchschnittlich an Wahlen beteiligen“, heißt es in der Studie.

Diese Schere klaffe immer weiter auseinander. Seit 1972 hat sich der Unterschied zwischen den Wahlkreisen mit der höchsten und der niedrigsten Wahlbeteiligung fast verdreifacht. Bei 81 Prozent lag 2013 die Beteiligung in den zehn Prozent der Wahlkreise mit der höchsten Beteiligung. Bei 65,7 Prozent lag die Wahlbeteiligung in den Wahlkreisen mit der niedrigsten Wahlbeteiligung. Ein Unterschied von 15,3 Prozentpunkten. Bei der Wahl vor 30 Jahren betrug die Spanne nur 5,4 Prozentpunkte.

Noch krasser wird die Differenz bei Betrachtung der Stimmbezirke. Dadurch kann noch genauer festgestellt werden, wo die „gut Betuchten“ wohnen und wo jene Menschen leben, die sich in prekären Lebensverhältnissen befinden. Mit einem Unterschied von rund 30 Prozentpunkten ist die Spreizung hier fast doppelt so hoch: In der einen Gegend liegt die Beteiligung im Schnitt bei 85,6 Prozent, in der anderen bei nur 54,1. In ganz Deutschland lag die Wahlbeteiligung bei 71,5 Prozent.

Einkommen und Bildung sind die zentralen Bestimmungsfaktoren. Arbeitslose und Menschen mit geringem oder keinem Schulabschluss gehen besonders selten zur Wahl. Die Studie kommt so zu dem dramatischen Schluss: „Arbeitslosigkeit schadet der Demokratie“. Menschen, die sich von Entwicklung und Wohlstand der Gesellschaft abgehängt fühlen, koppeln sich selbst von der Gesellschaft und ihrem demokratischen Prozess ab.

Große Ungleichheit

Die Wissenschaftler sehen damit eine These des US-Politologen Herbert Tingsten bestätigt. Er stellte schon in den 30er Jahren fest: Je geringer die Wahlbeteiligung, desto größer die Ungleichheit. In der Bertelsmann-Studie heißt es: „Hinter der zunehmenden Ungleichheit der Wahlbeteiligung verbirgt sich eine soziale Spaltung der Wählerschaft“. Deutschland sei „längst zu einer sozial gespaltenen Demokratie der oberen zwei Drittel unser Gesellschaft geworden.“ Diese Befürchtung hatte bereits in den 80er Jahren Peter Glotz (SPD) geäußert. Er sprach von eine „Zwei-Drittel-Gesellschaft“, in der es einer großen Mehrheit „relativ gut“ gehe, einem Drittel „relativ schlecht“.