Die letzten Tage DDR: Vor 30 Jahren verlor die SED endgültig ihre Macht

Halle (Saale) - Dass er 30 Jahre später zumindest in einem Fernsehdreiteiler des ZDF tatsächlich noch zum Helden gemacht werden wird, ahnt der Mann nicht, der in der Nacht zum 3. Dezember 1989 in einem ebenso bescheidenen wie unauffälligen Lada über den Grenzübergang Invalidenstraße nach Westberlin fährt. Alexander Schalck-Golodkowski ist 57 Jahre alt und er bebt vor Todesangst, wie er später erzählen wird. Schalck wird in jenen Momenten von einem der mächtigsten Männer der DDR zu deren letztem echten Flüchtling.
Strippenzieher Alexander Schalck-Golodkowski als Lebensretter der DDR
Schalck, bis wenige Wochen zuvor nur wenigen Eingeweihten bekannt, ist der Lebensretter der DDR. Der Mann ist ein Strippenzieher, der über Jahre mit Hilfe eines Imperiums von mehr als 200 Firmen im In- und Ausland Devisen für die klamme DDR-Staatskasse erwirtschaftete. Schalcks Methoden sind nicht immer sauber, aber erfolgreich.
Der gebürtige Berliner, im Range eines Obersten Offizier im besonderen Einsatz des Ministeriums für Staatssicherheit, verkauft mit seinem „Bereich Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) genannten Firmengeflecht Waffen und er verkauft Platz auf DDR-Müllhalden. Er besorgt Embargogüter für die volkseigene Industrie und er lässt sich sein Ferienhaus in der Schorfheide, gelegen mitten im Naturschutzgebiet, von Westfirmen bauen, weil er Qualitätsarbeit bevorzugt.
Vor 30 Jahren: Honecker ist gestürzt. Stasi-Chef Mielke zurückgetreten
In diesen ersten Wintertagen vor 30 Jahren aber bricht alles zusammen, wofür der gelernte Feinmechaniker und studierte Ökonom sich bis dahin eingesetzt hatte. Erich Honecker ist gestürzt. Stasi-Chef Erich Mielke zurückgetreten. Nachfolger Egon Krenz wackelt und hinter den Kulissen ist unter ehemals führenden und erstmals eine Chance witternden Genossen ein Kampf darum entbrannt, wer denn nun den Sündenbock geben soll für den absehbaren Zusammenbruch des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden.
Hans Modrow, so wird der damalige Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer später berichten, habe dann bei einem geheimen Treffen der SED-Spitze klargemacht, dass die Rettung der Partei nur gelingen könne, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit auf andere gerichtet werde. Modrow sei es auch gewesen, der die Stasi vorgeschlagen habe. Eine Idee, der der ehemalige Chef der MfS-Auslandsspionage, Markus Wolf, anfangs widersprochen habe. „Hans, wir haben doch nie etwas ohne Befehle von Euch gemacht“, habe Wolf gesagt. Doch als Modrow zusicherte, die Auslandsaufklärung des MfS aus der Sache herauszuhalten, sei auch Wolf überzeugt gewesen.
Etliche Ereignisse laufen in den letzten Herbsttagen der SED-DDR parallel ab
Zumal Modrows Rettungsplan nach den Erinnerungen Berghofers noch viel konkreter ist. „Wir brauchen natürlich auch eine hauptverantwortliche Person für die Misere“, soll der in den letzten Jahren der DDR als Reformer geltende und seit Anfang November 1989 bereits als DDR-Regierungschef amtierende frühere SED-Chef von Dresden Berghofer zufolge vorgeschlagen haben. Honecker komme allerdings nicht infrage, da er für die Partei stehe. Doch Alexander Schalck-Golodkowski passe: Der inzwischen als Egon Krenz' Beauftragter für die Beziehungen zur Bundesrepublik eingesetzte KoKo-Chef sei einerseits weitgehend unbekannt. Andererseits aber ahnen alle am Tisch, dass die Geschäfte der KoKo ausreichend anrüchig sind, um genug Staub aufzuwirbeln, dass andere Verantwortliche darauf hoffen können, außer Sicht zu geraten.
Etliche Ereignisse laufen in jenen letzten Herbsttagen der SED-DDR parallel ab. So taucht am 2. Dezember um 17.30 Uhr ein namenloser Vertreter des Neuen Forums bei einem Staatsanwalt in Rostock auf, um Anzeige gegen eine IMES-GmbH zu stellen, die eine Lagerhalle im nahen Kavelstorf betreibt. Zuvor hatten Bürgerrechtler und Anwohner sich Zugang zu der Halle verschafft. Und im Inneren 80 Waggonladungen mit Waffen gefunden, darunter 24 760 Maschinenpistolen, wie später gezählt wird.
Verfahren gegen gestürzten Staats- und Parteichef Honecker eingeleitet
Wieso diese Halle, warum so zielgerichtet? Woher kam der Verdacht, woher der Tipp? Der hitzige Spätherbst der Revolution verträgt keine solchen Fragen. Und so gibt es auch keine Antworten. Die Staatsanwaltschaft, bis eben noch ein staatliches Organ, das ohne Weisung von oben gar nichts unternahm, ermittelt nun wegen des Verdachts des Waffenhandels gegen Unbekannt, bekommt aber auch darüberhinaus plötzlich alle Hände voll zu tun.
Kaum hat die DDR-Volkskammer in Berlin mit den Stimmen der immer noch dominierenden SED-Fraktion die führende Rolle der Staatspartei aus der DDR-Verfassung gestrichen, leitet der DDR-Generalstaatsanwalt ein Ermittlungsverfahren gegen den gestürzten Staats- und Parteichef Erich Honecker ein. Wegen „Vertrauensmissbrauchs“ und „Untreue zum Nachteil sozialistischen Eigentums im schweren Fall“ soll sich Honecker vor Gericht verantworten müssen.
DDR-Parlamentarierer werden mit Eingaben aus der Republik überschüttet
Nach ersten Erkenntnissen des Volkskammerausschusses zur Überprüfung von Fällen des Amtsmissbrauchs, der Korruption und der persönlichen Bereicherung wird er nicht der einzige sein. Seit der Gründung des Gremiums werden die Parlamentarierer mit Eingaben aus allen Teilen der Republik förmlich überschüttet, in denen Bürger Hinweise zum Missbrauch von sogenannten Privilegien geben. So seien Häuser für Kinder von Politbüromitgliedern auf Staatskosten gebaut, millionenteure „Sonderjagdgebiete“ nur für Honecker und Mielke betrieben und diesen beiden führenden Genossen auch noch fragwürdige jährliche Sonderzahlungen als „Ehrenmitglieder der Bauakademie“ gewährt worden.
Gleich zwölf frühere SED-Führungsmitglieder, darunter Honecker, Horst Sindermann, Willi Stoph, Harry Tisch und Alexander Schalck-Golodkowski, schließt das Zentralkomitee „wegen der Schwere ihrer Verstöße gegen das Statut der SED“ aus, ehe es selbst geschlossen zurücktritt. Ein „Prozess der radikalen Erneuerung der Partei von der Basis her“ (SED-ZK), der bei Schalck-Golodkowski alle Alarmglocken schrillen lässt. Spätestens als der sozialistische Erz-Kapitalist erfährt, dass sein Büro im KoKo-Hauptquartier in der Berliner Wallstraße durchsucht wird und ihm zudem Informationen aus der geheimen Besprechung bei Modrow zugehen, ist es entschieden. Gemeinsam mit seiner Frau packt der offiziell mit dem Range eines Staatssekretärs ausgestattete Experte für verdeckte Aktion ein paar Sachen ins Auto und verlässt die DDR.
Alexander Schalck-Golodkowski wird zur persona non grata
Es ist noch DDR-Generalstaatsanwalt Gunter Wendland, der die Fahndung auslöst, und es ist die Regierung Modrow, die dem Flüchtigen alle Ämter aberkennt. Schalck-Golodkowski wird zur persona non grata, er ist der meistgesuchte und meistgehasste Mann der DDR zumindest für die nächsten 48 Stunden. Dann beginnen Bürgerinnen und Bürger überall im Land, Einrichtungen der Stasi zu besetzen, um die Vernichtung von Unterlagen zu stoppen. Dann tritt Egon Krenz von seinen Ämtern zurück. Stunden später gibt auch Generalstaatsanwalt Wendland seinen Posten auf. Einen Tag danach tritt der Zentrale Runde Tisch zum ersten Mal zusammen. Die DDR hat nun eine Nebenregierung, die sich schon am ersten Tag für eine komplette Auflösung der Staatssicherheit ausspricht. (mz)
