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DDR-Geschichte DDR-Geschichte: Schatten der Vergangenheit

Von MARKUS DECKER 09.05.2012, 18:53

Berlin/MZ. - Vor 20 Jahren sind sie nochmal hingefahren und haben sich den Ort des Geschehens angesehen. Dabei ist ein kleiner Film mit verwackelten Bildern entstanden, der heute bei YouTube auffindbar ist. Man sieht Gitter, kaputte Klos, die schon beim Hingucken stinken, alte Werkbänke. Alles ist dunkel und feucht. Und man sieht jene jungen Männer, die den Film gedreht haben: Fred Borchardt und seinen Kumpel Ingo Krüger, damals um die 30 Jahre alt, nun um die 50.

Würde man nur auf die beiden schauen, würde man nicht auf den Gedanken kommen, welche Geschichten mit den Bildern verbunden sind. Borchardt (mit langer Matte) und Krüger (mit Jeans und Sonnenbrille) machen Faxen, so wie junge Männer manchmal Faxen machen. Sie lachen, klopfen Sprüche und rütteln an schwedischen Gardinen. Das tun sie aber vielleicht nur, um dem Ernst etwas entgegenzusetzen. In Wahrheit zeigen die Bilder ein Gefängnis und einen nahe gelegenen Betrieb namens "Metallwaren Naumburg". Dort mussten politische Häftlinge für West-Konzerne schuften, darunter der Möbelgigant Ikea. Die Filmemacher waren zwei der Häftlinge.

Borchardt wurde in Rostock geboren. Er war Busfahrer. Und wollte raus aus der DDR. 1984 stellte er einen Ausreiseantrag. Weitere Anträge folgten. Alle wurden abgelehnt. Im November 1985 ging der Mecklenburger aufs Ganze. Er zog mit einem anderen Freund zum Checkpoint Charlie und zerriss vor den Augen der Grenzer seine Papiere. Das brachte ihm vier Monate Stasi-Haft ein - und eine Verurteilung zu 20 Monaten Gefängnis. Borchardt landete im Naumburger Knast. Im Knast traf er den zwei Jahre jüngeren Krüger, den er aus Rostock schon kannte und der über Polen versucht hatte abzuhauen. Sie erlebten, was Borchardt "Zwangsarbeit im wahrsten Sinne des Wortes" nennt - "für eine marginale Bezahlung". Zwangsarbeit auch für ein schwedisches Unternehmen, das längst ein Weltkonzern ist. Borchardt berichtet von Zellen inklusive Toilette für bis zu 16 Häftlinge und von Acht-Stunden-Schichten zu Tages- und Nachtzeiten, für die sie mit dem Bus ins Werk gefahren wurden. Sie fertigten Rollen, die sich üblicherweise unter Bürostühlen befinden. Und sie fertigten Scharniere für Küchenmöbel. Pro Monat erhielten die Gefangenen Gutscheine über je 35 DDR-Mark. Dafür konnten sie in einem Knast-Kiosk Kleinigkeiten kaufen: Kekse, Artikel zur Körperpflege, Bonbons. Für einen Monatslohn gab es eineinhalb Packungen Tee auf dem internen Schwarzmarkt.

Borchardt reduzierte einst die ihm gesetzte Norm auf ein Drittel und kassierte 18 Tage Dunkelhaft. Krüger verweigerte sie ganz und wurde tagelang auf einer Pritsche festgeschnallt. Ihr Beispiel sollte nicht Schule machen. Borchardt erinnert sich, es sei ein "offenes Geheimnis" gewesen, dass die Rollen und Scharniere für den Westen bestimmt waren. Für wen genau, das wusste er nicht. Es habe ihn, fügt er hinzu, auch nicht interessiert. "Der Name Ikea hätte mir damals gar nichts gesagt." Wenn er heute Rollen und Scharniere sieht, gehe sofort das "Kopf-Kino" los. Bei Krüger verhielt es sich etwa anders. Nachdem er im Westen gestrandet war, suchte er alsbald gezielt das Möbelhaus mit den vier Buchstaben auf. Und siehe da: Er fand Rollen und Scharniere, die aussahen wie jene aus Naumburg.

Borchardt hatte darauf gehofft, freigekauft zu werden. Das geschah nicht. Er musste bis zum Juni 1989 warten, bis man ihn legal ausreisen ließ. Krüger hatte mehr Glück. Der Westen zahlte für ihn. Und der Osten ließ sich bezahlen. Heute geht es beiden gut. Borchardt hat ein Fachgeschäft für Sicherheitstechnik in Hamburg. Krüger lebt ebenfalls in der Hansestadt und freut sich seines Lebens. Borchardt sagt über die Vergangenheit: "Mich berührt das eigentlich nicht mehr." Ohnehin habe er sich gewundert, "dass alle mit dem Finger auf Ikea zeigen. Andere Unternehmen betrifft es doch auch." Andererseits gebe es unter seinen Freunden einige Politische, "denen es dreckig geht". Eine Freundin leide unter großen psychischen Problemen. Ein anderer Mithäftling aus Naumburg habe sich erschossen. Viele könnten sich beim besten Willen nicht von der Vergangenheit lösen. Eine Kompensation für diese Menschen, sagt Borchardt, "würde ich als gerecht empfinden".