Colonia Dignidad Colonia Dignidad: Frank-Walter Steinmeier und die Schuld der deutschen Diplomatie

Berlin - Im Film ist das Grauen plakativ: Es ist der Handschlag des Deutschen Botschafters mit dem Sektenchef, der das Gefühl von Sicherheit zerstört. Es ist das heimliche Telefonat der Botschaftsmitarbeiterin, die die Geflohenen verrät, das klar macht: Die Diplomaten sind nicht am Opferschutz interessiert, sie stecken mit den Tätern unter einer Decke. Es ist ein Alptraum im Film „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ der derzeit in den Kinos läuft.
Und der Alptraum wird noch schwerer erträglich, weil klar ist: Es sind nicht nur die Schauspieler Emma Watson und Daniel Brühl, die vor Filmkameras bangen müssen. So oder so ähnlich ist es wirklich gewesen. Und zwar vor nicht allzu langer Zeit, bis Mitte der 90er Jahre führte in der streng abgeschirmten deutschen Sektenenklave in Chile deren Chef Paul Schäfer sein Terrorregime, mit Folter, Kindsmissbrauch und Medikamentenexperimenten und Zusammenarbeit mit der chilenischen Militärdiktatur. Danach wurde sie noch zehn Jahre von Nachfolgern weitergeführt.
Anklage gegen deutsche Diplomatie
Die Beklemmung hat offenbar auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier erfasst. Er hat den Film am Dienstagabend noch einmal im holzgetäfelten Weltsaal seines Ministeriums zeigen lassen, unter schweren Kronleuchtern, auf einer eigens aufgestellten Leinwand. Die Anklage gegen die deutsche Diplomatie ist mitten in deren Zentrum angekommen.
Steinmeier hält danach eine Rede. Er sagt, der Film sei „der künstlerische Anstoß“ dafür gewesen, dass sich sein Amt erneut mit seiner Rolle im Umgang mit der Colonia DIgnidad beschäftigt habe. Offensichtlich habe man den gebraucht.
„Kein Ruhmesblatt“ für Auswärtiges Amt
Und Steinmeiers Urteil ist vernichtend: „Die Colonia Dignidad ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Auswärtigen Amtes“, sagt er. Die deutschen Diplomaten hätten „bestenfalls weggeschaut“, in jedem Fall aber „zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute getan“.
Selbst nach Auflösung der Sekte habe man „die notwendige Entschlossenheit und Transparenz vermissen lassen, seine Verantwortung zu identifizieren und daraus Lehren zu ziehen“.
„So ähnlich muss Theresienstadt gewesen sein“
Eindrückliche Beispiele nennt Steinmeier. Die Ehrenerklärung des deutschen Botschafters Erich Strätling angesichts von Folter- und Missbrauchsvorwürfen von Menschenrechtsorganisationen etwa. Die Notiz eines Botschaftsmitarbeiters aus dem Jahr 1977 etwa, der nach einem Besuch des stacheldrahtumzäunten Sektengeländes vermerkte, dort sei es „ordentlich und sauber bis zu den Schweineställen“. Das geflohene Ehepaar, das sich in der kanadischen Botschaft meldete, weil ihnen die deutsche Botschaft zu unsicher erschien. Schließlich ein Urteil eines weiteren deutschen Diplomaten, der die Colonia schockiert mit einem Konzentrationslager verglich: „So ähnlich muss Theresienstadt gewesen sein.“
Die Mitschuld deutscher Behörden ist noch nicht komplett erforscht.
Steinmeier gibt alle Akten frei
Steinmeier hat sich daher nun zu einem Schritt entschieden, der für viele Diskussionen im Amt gesorgt hat. Er gibt alle Akten frei, zehn Jahre vor Ende der gesetzlichen Geheimhaltungsfrist. Es betrifft die Jahre 1985 bis 1996, die letzten Jahre vor der Flucht des Sektenführers Schäfer, der 2005 in Argentinien verhaftet wurde und 2010 im Gefängnis starb. Der Umgang mit der Colonia soll als warnendes Beispiel in die Diplomatenausbildung aufgenommen werden: „Die fehlende Weisung darf nicht Rechtfertigung für Wegschauen und Untätigkeit sein“, sagt Steinmeier. Herz, Verstand und Mut fordert Steinmeier seinen Leuten ab.
Leben„wie in einer Glaskugel“
Ehemalige Bewohner der Colonia sind zu der Vorführung gekommen. Wolfgang Kneese, dem vor genau 50 Jahren die Flucht gelang, spricht von „einem Tag, der mir Hoffnung macht“.
Anna Schnellenkamp, die in der Sekte aufwuchs und noch heute mit etwa 130 anderen auf dem Gelände lebt, sagt: „Etwas Positives kann man nicht empfinden.“ Sie ist jetzt Ende 30, ihr Leben ganz ohne Sekte dauert erst zehn Jahre. Sie berichtet vom jahrelangen Leben „wie in einer Glaskugel“, von den psychischen Problemen der ehemaligen Bewohner heute. Sie bittet um Hilfe, um Psychologen, um finanzielle Unterstützung. Sie sagt, der Kinofilm sei untertrieben. „Das Leiden vieler war noch grausamer.“