Interview mit Claudia Roth Claudia Roth: "Erdogan nutzt aus dass in Deutschland viele Türken leben"

Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth, beschäftigt sich seit vielen Jahren auch mit der Türkei und ist über die Parteigrenzen hinweg als Türkeiexpertin anerkannt. Die heute 62-Jährige war von März 2003 bis Ende 2004 Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung. Sie war zehn Jahre lang Vorsitzende der Grünen. Den türkischen Präsidenten Erdogan kritisiert sie scharf: „Der Ausnahmezustand nach dem Putschversuch vor einem Jahr kam ihm gerade Recht, um seine Pläne brutal zu verfolgen“, sagt Roth im Interview.
Frau Roth, die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind auf einem Tiefpunkt. Der türkische Präsident Erdogan poltert gegen die Bundesregierung, benutzt Nazi-Vergleiche, klagt gegen alberne Gedichte. Was treibt ihn?
Claudia Roth: Erdogan hat ein klares Ziel. Er will die Türkei zu einer Präsidialautokratie umbauen: Er will ein Präsidialsystem, das einer Diktatur gleicht. Der Ausnahmezustand nach dem Putschversuch vor einem Jahr kam ihm da gerade Recht, um seine Pläne brutal zu verfolgen. Putin scheint sein großes Vorbild zu sein. Dafür braucht Erdogan ein Feindbild im Ausland, um im Inland Stimmung zu machen. Er nutzt eiskalt aus, dass in Deutschland so viele Menschen mit türkischen Wurzeln leben. Das ist brandgefährlich, denn seine Stimmungsmache wirkt auch hierzulande extrem polarisierend.
Aber das Verfassungsreferendum in der Türkei ist im Sinne Erdogans ausgegangen. Warum gibt er keine Ruhe?
Erdogan ist nicht so stark, wie es manchmal den Anschein hat. Etwa 50.000 Menschen sind seit dem Putschversuch verhaftet, 150.000 Menschen aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden. Erdogan versucht, Oppositionsparteien zu vernichten. Er hat etwa 160 Journalisten inhaftieren, Menschenrechtler festnehmen lassen. Er trägt den Krieg in die kurdischen Regionen. Ganz klar: Erdogan fühlt sich unsicher, auch wenn es nach dem – manipulierten – Ergebnis eine knappe Mehrheit für seine Pläne zu geben scheint, den Staat umzubauen. Viele lehnen seine Politik ab und wollen eine weltoffene und demokratische Türkei.
Sie setzen auf jene knapp 50 Prozent, die mit Nein gestimmt haben?
Absolut. Das sind die Menschen in der Türkei, deren Anliegen wir unterstützen müssen. Erdogan hat sich durch seinen radikalen Entrechtungskurs eine wachsende Opposition geschaffen. Das wird ihm langfristig schaden. Der Widerstand wächst, die Menschen demonstrieren – obwohl die Pressefreiheit hinter Gittern sitzt.
Sie selbst wollten sich vor einigen Wochen in der Türkei umschauen – die türkischen Behörden erlaubten es nicht.
Eine billige Revanche. Es ist doch lächerlich zu sagen, das sei die Antwort auf Verletzungen, die Deutschland türkischen Politikern zugefügt habe, weil sie nicht für das Referendum werben durften. Das ist eine Auge-um-Auge-Politik, die ich nicht nachvollziehen kann.
Nun hat die Bundesregierung einen Auftritt von Erdogan in Hamburg untersagt. War das klug?
Das halte ich für falsch. Wenn er bei uns reden will, soll er doch reden. Das ist es, was wir unter Meinungsfreiheit verstehen. Das unterscheidet uns von Erdogans Türkei. Dort werden Kritiker eingesperrt, bei uns müssen sie reden dürfen.
Roth über den Flüchtlingspakt, Deniz Yücel und die EU-Beitrittverhandlungen
Der Flüchtlingspakt, den die EU mit der Türkei geschlossen hat, macht es nicht einfacher, gegen Erdogan vorzugehen.
Der Pakt muss beendet werden. Er ist sowieso völkerrechtlich bedenklich. Wie kann man ernsthaft sagen, die Türkei sei ein sicherer Drittstaat, in den man Flüchtlinge zurückschicken kann? Das wird ja wohl angesichts der Vorgänge in der Türkei niemand behaupten können. Das heißt nicht, dass wir keine humanitäre Hilfe mehr in der Türkei leisten sollten. Dort leben schließlich drei bis dreieinhalb Millionen Flüchtlinge. Das sind mehr als in ganz Europa zusammen. Dazu braucht es aber keinen schäbigen Deal, der uns nur abhängig macht.
Wie kann es gelingen, den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel und die vielen anderen inhaftierten Reporter aus der Haft zu bekommen?
Ich habe leider keine befriedigende Antwort auf diese Frage. Wir müssen aber klare Kante zeigen, was die Beachtung der Menschenrechte angeht. Deniz Yücel ist offenbar für Erdogan so etwas wie eine politische Geisel. Auch wenn es vielleicht nicht sofort Erfolg hat, wir dürfen nicht aufhören, immer und immer wieder die Freilassung Yücels zu verlangen. Erdogan muss wissen, dass er mit seinen Methoden nicht durchkommt.
Was kann die Bundesregierung tun, um Erdogan zur Vernunft zu bringen?
Wir müssen den Export von Rüstungsgütern sofort stoppen. Es kann nicht sein, dass Deutschland nach wie vor Waffen an die Türkei liefert, obwohl in den kurdischen Provinzen brutale Gewalt herrscht. Außerdem darf es unter den derzeitigen Umständen nicht mal Gespräche über die Ausdehnung der Zollunion zwischen der Türkei und der EU geben. Auch die von Erdogan erhofften Wirtschaftshilfen sollten wir nicht geben. Der schlechte Zustand der türkischen Wirtschaft ist schließlich eine direkte Folge seiner Politik.
Würde das nicht auch die Erdogan-Gegner bestrafen?
Das ist natürlich ein Dilemma. Aber Rüstungsexporte und Wirtschaftshilfen nutzen vor allem Erdogan. Und wir dürfen nicht einen Präsidenten unterstützen, der jeden als Terroristen brandmarkt, der nicht seiner Meinung ist – und zwar wirklich jeden. Finanzielle Hilfe zur Heranführung der Türkei an die EU etwa sollte nur gezielt an zivilgesellschaftliche Organisationen gehen. Die pro-demokratischen NGO, die übrig sind, brauchen nun unsere Unterstützung. Nicht aber die Regierung.
Müssten konsequenterweise die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei abgebrochen werden?
Davor kann ich nur warnen. Das würde Erdogan erst recht in die Lage versetzen, sich und seine Anhänger als Opfer einer europäischen Verschwörung zu stilisieren. Und wir würden jene 50 Prozent der Menschen, die gegen Erdogan sind und eine europäische Perspektive wollen, im Stich lassen. Erdogan ist nicht die Türkei. Deswegen sage ich: Die Verhandlungen müssen auf Eis gelegt werden. Sie dürfen aber nicht abgebrochen werden. Wir müssen Erdogan und seinen Leuten klar machen: Wir sind an guten Beziehungen und an einem engen Verhältnis zur Türkei sehr interessiert. Für eine demokratische Türkei stehen die Türen zur EU aber immer offen. Aber wir lassen uns nicht erpressen.