China China: Die Lokomotive hat genug eigene Probleme

Peking/dpa. - Ist China eine neue Supermacht? Das Reich der Mitte wird noch dieses Jahr zur zweitgrößten Volkswirtschaft nach den USA aufsteigen und Japan überholen. Von Deutschland übernimmt China den prestigeträchtigen Titel des Exportweltmeisters. Mit den weltgrößten Devisenreserven fungiert China als Hausbank und größter Kreditgeber der hoch verschuldeten, angeschlagenen USA. Während die Bedeutung der letzten verbliebenen Supermacht USA abnimmt, steigt China zum gewichtigen Mitspieler auf der Weltbühne auf - ist heute so stark wie nie zuvor. Mit dem ersten Test eines Raketenabwehrsystems am Montag unterstrich China jetzt noch seine gewachsene militärische Stärke.
Bei seinem «Antrittsbesuch» am Freitag in Peking wird der neueBundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) auf ein gewachsenesSelbstbewusstsein der chinesischen Führer stoßen. Experten sind sich einig, dass die globale Wirtschaftskrise die Machtkonstellationen in der Welt zugunsten Chinas verschoben hat. Mit einem eindrucksvollen Wachstum von acht Prozent erweist sich China - trotz eigener Probleme - als Lokomotive der Weltkonjunktur. «Es ist ganz offensichtlich: China ist ein aufstrebendes Land, während die Macht der USA relativgesehen abnimmt», stellt die Forscherin Yu Yingli vom ShanghaierInstitut für internationale Studien fest. «Die Fähigkeit der USA, die Führungsrolle in der Welt zu übernehmen, wird zunehmend schwächer.»
US-Präsident Barack Obama betont selbst, dass die großen Probleme der Welt - der Atomstreit mit dem Iran und Nordkorea, die globale Wirtschaftskrise oder der Klimaschutz - nicht ohne die Kooperation Chinas gelöst werden können. Der gescheiterte Klimagipfel in Kopenhagen offenbarte aber den Widerspruch, der Chinas Aufstieg begleitet: Einerseits tritt der größte Treibhausgasproduzent allein durch seine schiere Größe als große Macht auf, lehnt andererseits aber die besondere Verantwortung ab, die diese Rolle mit sich bringt.
Alle Welt blickt auf China, verleiht dem Reich der Mitte schondurch seine Erwartungshaltung die Aura einer Großmacht. Doch von der viel diskutierten «Gruppe der Zwei» (G2), einer Partnerschaft mit den USA zur Lösung globaler Herausforderungen, hält Chinas Führung nicht viel. Als größtes Entwicklungsland - mit zehn Prozent seiner 1,3 Milliarden zählenden Bevölkerung noch in Armut - habe das Land selbstgenug Probleme zu lösen, argumentiert Regierungschef Wen Jiabao. Denn selbst wenn China bald zweitgrößte Wirtschaftsnation der Welt sein mag, reicht es bei einer Pro-Kopf-Bemessung der Wirtschaftsleistungnicht einmal für Platz 100.
Andererseits lässt die kommunistische Führung die neu gewonnenenMuskeln gerne spielen, wenn es um ihre «Kern-Interessen» geht: Diewirtschaftliche Entwicklung und die Wahrung der territorialenIntegrität - in Tibet, Xinjiang, Taiwan und im Streit mit Nachbarn umstrittige Inseln und Rohstoffvorkommen. In der Gruppe der 20führenden Wirtschaftsnationen (G20), die durch die Wirtschaftskrisean Bedeutung gewonnen hat, spielt China ebenso eine führende Rollewie in der Welthandelsrunde. Protektionistische Maßnahmen andererLänder beantwortet China selbstbewusst mit eigenen Handelssanktionen.
China mausert sich, doch zur Supermacht fehlt noch einiges, wieExperten argumentieren. Anders als die USA könne es etwa sein Militärnicht beliebig an anderen Orten der Welt einsetzen, auch wenn es dieUSA atomar bedrohen oder seine Nachbarn einschüchtern kann. Auchseien seine Diplomaten Befehlsempfänger, ohne Verhandlungsspielraumund kaum gewohnt, Verantwortung zu übernehmen. Das größte Manko liegeaber im Inneren: Die kommunistische Ein-Parteien-Diktatur werde nurdurch den Erfolg seiner Wirtschaft und den wachsenden Wohlstandgetragen, stütze sich sonst auf die Unterdrückung von Kritikern. Die«Rotchina AG» sei zwar wirtschaftlich erfolgreich, aber ideologischbankrott. Dem politischen System fehle jede Anziehungskraft.
«Die Ausübung von Macht muss durch Ideen und Visionen fundiertsein, die universell attraktiv sind», schrieb Professor Minxin Peifür die US-Denkfabrik Carnegie Endowment in einem Aufsatz unter demTitel: «China ist keine Supermacht». Chinas Führer seien sich derGrenzen ihrer Macht nur zu gut bewusst. Sie verhielten sich deswegenäußerst vorsichtig und schreckten vor internationalen Verpflichtungenzurück. «Während China immer einen Platz auf der Weltbühne habenwird, wird seine Bereitschaft und Fähigkeit, eine Führungsrolle zuspielen, höchstwahrscheinlich jene enttäuschen, die von Chinaerwarten, sich wie eine Supermacht zu benehmen.»