China China: Der Tyrann ist tot, der Mythos lebt

Peking/dpa. - «Ich fühle mich sehrschlecht. Ruft die Ärzte», will seine Pflegerin, eine seiner vielen früheren Freundinnen, noch verstanden haben, bevor Mao endgültig das Bewusstsein verlor. Zehn Minuten nach Mitternacht - genau vor 30 Jahren am 9. September 1976 - starb der Diktator, der so viele Millionen Menschen auf dem Gewissen hat, dass er als einer der grausamsten Tyrannen des 20. Jahrhunderts gelten muss.
Doch als «großer Steuermann» idealisiert, hängt sein Porträt drei Jahrzehnte später weiter überlebensgroß am Eingang zum Kaiserpalast.Sein Kopf schmückt die neuen Geldscheine des Wirtschaftswunderlandes,das seine radikalen Ideen längst begraben hat und dem Kapitalismusfrönt. Lange Schlangen stehen weiter vor dem Mausoleum auf dem Platzdes Himmlischen Friedens. Zig-Millionen Menschen sind bis heute anseiner einbalsamierten Leiche in dem gläsernen Sarkophag vorbeigepilgert. Mao-Amulette am Rückspiegel Pekinger Taxis sollen Fahrerwie Insassen vor Unfällen beschützen. Sein Bildnis als Anstecknadelschmückt chinesische Punks ebenso wie ausländische Touristen.
Der Mythos lebt - egal, wie viele Menschen unter Mao getötet,verfolgt, gefoltert, verhungert oder eingesperrt worden sind. Auchdie jüngste Abrechnung in der neuen Mao-Biographie der Autorin JungChang mit ihrem Mann, dem Historiker Jon Halliday, die im Westen eineheiße Debatte ausgelöst hat, scheint in China nicht auf fruchtbarenBoden zu fallen. Das Buch ist verboten. «Wir führen das Buch nicht,weil es nicht verkauft werden darf - aber wir können ihnen einExemplar aus Hongkong bestellen», bietet eine freundlicheBuchhändlerin an.
Das Autorenpaar schätzt, dass Mao für den Tod von 70 MillionenMenschen verantwortlich ist - schlicht ein Massenmörder. Nichtkommunistische Ideologie, sondern grenzenloser Machthunger habe ihnangetrieben. Zwölf Jahre hat Jung Chang, deren «Wilde Schwäne» in 30Sprachen übersetzt worden war, mit ihrem Mann an dem Buch gearbeitet.Sie demontieren die Legende Mao auf eine Weise, die angesichts derdistanzierten Objektivität mancher Historiker und der unkritischenBewunderung für Mao im Westen fast notwendig und wohltuend erscheint.Selbst Andy Warhol hatte Mao zur Pop-Ikone erhoben - aber, wer wärejemals mit einem Hitler-Porträt auf dem T-Shirt herumgelaufen?
Chinas Führung will aber keine Aufarbeitung der grausamenVerbrechen des großen Vorsitzenden. Die Kommunistische Partei brauchtMao noch. Er gibt dem neuen China bis heute Identität. «70 Prozentgut, 30 Prozent schlecht», lautete 1980 das pragmatische Urteilseines Nachfolgers Deng Xiaoping. Eine «Entmaoisierung» würde dieMacht der Partei erschüttern. So bleibt es bei dem verklärten Blickauf die eigene leidvolle Geschichte. Der frühere Sekretär Maos, der87-jährige Li Rui, versuchte vergeblich, das Tabu zu brechen. SeineKritik ist aber nur im Ausland zu lesen. «Mao war zu autokratisch. Erkonnten keinen Widerspruch aushalten. Er hatte die abergläubischeÜberzeugung, immer und absolut Recht zu haben», sagte Li Rui in einemviel zitierten Interview. «Aber Maos Problem war auch ein Problem desSystems. Die Ursache lag auch im Parteisystem.»