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Über Social Media Chemnitz: Fake News heizen neonazistische Hetzjagden über Social Media an

Von Margarethe Gallersdörfer 28.08.2018, 17:36

Chemnitz - Die Tweets der Polizei Sachsen vom Sonntag lesen sich, als seien der oder dem Social-Media-Verantwortlichen beim Verfassen die Schweißperlen auf der Stirn gestanden: Zahlreiche Wortwechsel mit anderen Usern, ironische Verkündungen, man müsse sich erst noch mit Merkel absprechen, und immer wieder die Bitte, sich mit Spekulationen zurückzuhalten.

Um 15.27 Uhr schrieb der Twitter-Account der Polizei Sachsen: „Entgegen der in einigen Medien kursierenden Infos, gibt es nach jetzigem Ermittlungsstand bzgl. des Tötungsdelikts in #Chemnitz keinerlei Anhaltspunkte, dass eine Belästigung der Auseinandersetzung vorausging. Bitte beteiligt euch nicht an Spekulationen!“

Über Spekulationen zur Hetzjagd

Ein Ruf ins Leere. Am Sonntagnachmittag und Montag marschierten tausende Menschen auf, um gegen vermeintliche „Ausländergewalt“ zu demonstrieren. Mobilisiert hatten AfD und die rechtsextreme Hooligan-Gruppe „Kaotic Chemnitz“.

Hitlergrüße wurden gezeigt, rechtsextreme Parolen wurden gerufen, es kam zu Hetzjagden auf ausländisch aussehende Menschen. Spekulationen und Gerüchte haben die Randalen in Chemnitz am Sonntag und Montag maßgeblich angeheizt.

Der erfundene zweite Tote

Die bisher gesicherten Fakten: Bei einem Stadtfest in Chemnitz kam es um etwa 3.15 Uhr früh am Sonntagmorgen zu einer Auseinandersetzung zwischen mehreren Männern unterschiedlicher Herkunft. Drei der Beteiligten wurden dabei teils schwer verletzt; einer, ein 35-jährige Deutscher, verstarb im Krankenhaus.

Die Polizei hat zwei Männer aus Syrien und dem Irak festgenommen, 22 und 23 Jahre alt. Sie sitzen nun in Untersuchungshaft.

Nicht verstummt sind in den sozialen Medien auch Tage später Gerüchte, es habe einen zweiten Toten gegeben. Das stimmt nicht. Es kamen Gerüchte auf, „die Opfer“ seien Deutschrussen: Falsch. 

Von Bürgerpflichten und „Messermigration“

In Bezug auf den Verstorbenen ist in den sozialen Medien außerdem immer wieder das Attribut „couragierter junger Mann“ zu lesen. Warum? Nach seinem Tod in der Nacht zum Sonntag verbreitete sich in den sozialen Medien schnell das Gerücht, der Verstorbene sei erstochen worden, weil er eine deutsche Frau vor Belästigung durch Männer mit Migrationshintergrund verteidigt habe.

Die Polizei Sachsen dementiert diese Behauptung seit Sonntag unmissverständlich. Wie ist sie dann entstanden? „Couragiert“ ist ein Signalwort geworden: Mutig und aufrecht, so sehen Rechte die „besorgten Bürger“, die es sich zur Aufgabe machen, das eigene „Volk“ vor angeblich feindlichen Massen aus dem Ausland zu beschützen.

So twitterte der AfD-Abgeordnete Markus Frohmaier am Montag: „Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Straße und schützen sich selber. Ganz einfach! Heute ist es Bürgerpflicht, die todbringendende "Messermigration" zu stoppen!“

Die Erzählung vom mordlustigen Migranten

Der Migrant ist in der rechten Denkweise grundsätzlich mordlustiger als die Einheimischen. Darauf verweist auch das ebenfalls falsche Gerücht, auf das Opfer sei 25 Mal eingestochen worden. Das Messer ist zudem laut Rechten die „typische“ Tatwaffe.

Die Schutzbedürftigkeit der deutschen Frau ist ein weiteres beliebtes Thema in rechten Kreisen. Die Reden von der angeblich besonderen sexuellen Bedrohlichkeit von ausländischen Männern werden oft versehen mit Hinweisen auf die Kölner Neujahrsnacht 2015.

So twitterte zum Beispiel der AfD-Bundestagsabgeordnete Udo Hemmelgarn am Montag unter Verwendung von gleich zwei verschiedenen Messeremojis: „Nicht die friedlichen Proteste der couragierten Chemnitzer gegen die kriminellen muslimischen Migranten sind das Problem, sondern die Vergewaltigungen+Morde durch illegale Einwanderer, die Migrantengewalt!“

Der Effekt muss stimmen, nicht die Information

Um es noch einmal zu wiederholen: Es gibt keinerlei Hinweise, dass sexuelle Gewalt oder Belästigung bei den Ereignissen in Chemnitz eine Rolle gespielt hat. Die waren jedoch wohl einfach nicht nötig für die Verbreitung von Gerüchten in den sozialen Medien. Nötig waren nur die Grunddaten: Stadtfest, Auseinandersetzung zwischen Männern, zum Teil mit Migrationshintergrund, Messerstiche.

Die oben dargestellte Weltsicht, verbunden mit dem Umstand, dass es kurz nach so einem Vorfall meist nur wenige und widersprüchliche Informationen gibt, ergibt den perfekten Nährboden.

Es reicht ein Effekt, den Kommunikationswissenschaftler „Priming“ nennen: Passt die Information zur eigenen Weltsicht (egal ob rechts oder links), stimmt sie überein mit der eigenen Mediendiät? Dann wird sie angenommen. Quelle egal – wobei im Fall Chemnitz auch die Bildzeitung die Mär von der sexuellen Belästigung weiterverbreitet hat.