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Cem Özdemir im Interview Cem Özdemir im Interview: "Die FDP steht rechts von der Union"

Von Markus Decker 15.09.2017, 06:00
Cem Özdemir
Cem Özdemir Wächter

Herr Özdemir, wenn die Grünen nach der Wahl mitregieren sollten, dann nur noch allein mit CDU und CSU, richtig?

Das Rennen ist offen. Das Rennen um Platz eins scheint zwar entschieden zu sein. Und das Fernsehduell war ja in Wirklichkeit die in Stein gemeißelte Alternativlosigkeit. Insofern richtet sich jetzt die Aufmerksamkeit auf die Frage: Wer landet auf Platz drei? Und da deutet sich ein Kopf- an Kopf-Rennen zwischen der FDP und uns an. Es ist denkbar, dass die FDP mit CDU und CSU allein regiert. Das wäre ein Rückschritt für Deutschland. Es ist genauso denkbar, dass wir regieren können – und zwar ohne die FDP. Dann gibt es konkreten Fortschritt bei Umwelt und Gerechtigkeit und nicht nur schöne Überschriften. Darauf arbeite ich hin.

Jamaika bleibt für Sie möglich? Sie haben sich mit der FDP zuletzt ziemlich gestritten.

Ich sehe nicht, wie wir mit der FDP zusammenkommen sollen. Auch wenn gilt: Wir reden mit allen demokratischen Parteien – außer mit der AfD. Aber mit allen reden heißt nicht, über alles reden. Schwarz-Grün wäre keineswegs ein Selbstläufer. Mit CDU und CSU beharken wir uns heftig. Aber immerhin erkennt die Union in ihrem Programm an, dass ein Kohleausstieg notwendig ist. Und die Kanzlerin hat zugegeben, dass der Verbrennungsmotor ein Enddatum benötigt. Und was sagt die FDP? Die FDP will das Stickoxid-Problem zwar auch lösen – aber nicht dadurch, dass sich die Autos der Gesundheit der Kinder anpassen. Stattdessen sollen sich die Kinder den Autos anpassen. Die FDP will die Grenzwerte aufweichen. Oder nehmen wir den Klimawandel. Da stellt sich doch die Frage: Wie viele Jahrhundert-Naturkatastrophen verträgt ein Jahrhundert? Anstatt sich diesem Problem zu widmen, sagt die Generalsekretärin der FDP, der Zusammenhang von Klimawandel und den zunehmenden Extremwetterlagen sei Fake-News. Da erwidere ich klar: Mit Klimawandel-Skeptikern koaliere ich nicht. Dafür liebe ich meine Kinder zu sehr.

Nun ist aber Horst Seehofer auch nicht gerade ein Verbrennungsmotor-Gegner.

Mit Sicherheit nicht. Und wenn man Frau Merkel bekommt, bekommt man ihre bucklige Verwandtschaft dazu. Aber in der Union gibt es immerhin die Erkenntnis, dass der Klimawandel eine immense Gefahr für die Menschheit ist, während manche FDPler sich sogar auf den Klimawandel freuen. Herr Lindner positioniert die FDP auch in der Klimapolitik rechts von der Union, weil er enttäuschte Unions-Wähler einsammeln möchte. Mir fehlt die Fantasie, mir vorzustellen, wie er nach der Wahl eine Wende zurück in die Mitte der Gesellschaft schaffen will.

Es fiel auf, dass Sie beim Anne-Will-Gespräch mit Wolfgang Schäuble als größte Differenz mit der Union die Klimapolitik benannt haben. Da sagt der linke Flügel: Nein, nein, da gibt es auch noch ein paar andere Punkte – soziale Gerechtigkeit, offene Gesellschaft.

Ich habe ja über die Rente gesprochen und einen scharfen Angriff gefahren – gerade gegen Herrn Schäuble, der als Finanzminister eigentlich ein schlechtes Gewissen haben müsste, dass bis 2030 für die Rentenreformen 160 Milliarden Euro ausgegeben werden, obwohl sie doppelt fatal wirken. Denn dieser Griff in die Rentenkasse spricht der Generationengerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit Hohn. Die eigentlich Bedürftigen – Erwerbsgeminderte, Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose, an denen unser Jobwunder völlig vorbeigeht – haben bei CDU/CSU und SPD keine Lobby. Wir sind ihre Lobby.

Die EU hat unter Führung der Kanzlerin einen Flüchtlingsdeal mit der Türkei gemacht. In Ihrer Partei rumort es deshalb. Wie kann hier ein Kompromiss mit der Union aussehen?

Wenn ich wüsste, wie die Flüchtlingspolitik der großen Koalition aussieht, dann könnte ich die Frage leichter beantworten. Doch Horst Seehofer schafft ja das Kunststück, zum Thema Obergrenze an einem einzigen Tag drei verschiedene Positionen einzunehmen. Die Grünen sind für eine ideologiefreie Debatte. Wir haben eine humanitäre Verpflichtung. Menschen dürfen im Mittelmeer nicht ertrinken. Und klar ist, dass auch Menschen abgeschoben werden müssen. Aber es darf doch nicht die Falschen treffen. Wir dürfen doch keine Jugendlichen, wie in Nürnberg geschehen, aus der Ausbildung reißen und nach Afghanistan abschieben, in ein unsicheres Land – während wir gleichzeitig einen Anis Amri, den Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, nicht dingfest machen können, obwohl ihn die Sicherheitsbehörden auf dem Radar hatten.

Cem Özdemir über die Türkei-Politik

Würde ein Außenminister Özdemir eine Reisewarnung für die Türkei aussprechen?

Wir verteilen keine Posten vor der Wahl. Nur eines gebe ich Ihnen mit Brief und Siegel: In der Türkei-Politik würden wir nicht das unsinnigste aller Instrumente hervorkramen, also den Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der EU. Niemand, der bei Trost ist, sagt, dass die Türkei EU-Mitglied wird, solange Erdogan Präsident ist. Lasst uns doch die Beitrittsverhandlungen dort liegen, wo sie schon sind: im Kühlregal ganz hinten.

Was würden Sie denn machen?

Eine Reisewarnung wäre wichtig. Dann können die Leute kostenfrei ihre geplante Reise stornieren. Viele in Deutschland sind doch verunsichert, haben Sorge, dass sie verhaftet werden, wenn sie in die Türkei einreisen. Und sie haben Grund dazu. Erdogan verhält sich gegenüber der deutschen Regierung wie ein Geiselnehmer nach der Devise: Wenn du mir meine Kritiker schickst, die bei dir Zuflucht gefunden haben, dann lasse ich deine Leute frei. Das ist unerträglich. Wir müssen eine Reisewarnung aussprechen.

Reicht das?

Wir dürfen auch keine Hermes-Bürgschaften mehr ausstellen, und die Waffenlieferungen aus Deutschland müssen gestoppt werden. Das tut Erdogan weh. Der versteht nur diese Sprache. Wenn Erdogan will, dann kann ich es ihm auch auf Türkisch sagen. Aber die Bundesregierung prüft nur und prüft, bis die Wahl vorbei ist und es aus ihrer Sicht wieder business as usual geben kann. Ich glaube dieser Bundesregierung kein Wort, wenn es um die Türkei-Politik geht. Und außerdem: Rheinmetall hilft gerade dabei, eine Panzerfabrik in der Türkei aufzubauen. Die Verhandlungen hat maßgeblich Cheflobbyist Dirk Niebel geführt. Der war in der letzten schwarz-gelben Koalition für die FDP Entwicklungsminister. Da bekommt man einen Vorgeschmack darauf, was eine schwarz-gelbe Koalition machen würde.

Eine Reisewarnung, ein Stopp der Bürgschaften – ist das nicht auch nur Symbolpolitik?

Nein. Erdogan muss harten wirtschaftlichen Druck spüren. Wir müssen ein Signal senden, dass er in Deutschland selbst nicht mehr so vorgehen kann wie bisher. Ditib und die anderen islamischen Dachverbände bekommen sehr viel Geld aus Ankara und von der Bundesregierung. Die Zusammenarbeit muss daran geknüpft werden, dass sich Ditib schrittweise von der Abhängigkeit von Ankara löst und sich zu einer inländischen Vertretung von in Deutschland lebenden Muslimen entwickelt. Wir können nicht zulassen, dass eine Vorfeldorganisation Erdogans wie die UETD eine Art Angstregime in der türkischen Gemeinde in Deutschland aufbaut. Die gehen schon jetzt von Moschee zu Moschee und versuchen, die Leute auf ihre Seite zu ziehen. Wenn wir nicht aufpassen, könnte es bald eine von Erdogan gesteuerte Parallelgesellschaft bei uns geben.

Sind Sie Erdogan schon mal persönlich begegnet?

Mehrfach. Schon, als er Mitte der 90er Jahre Oberbürgermeister von Istanbul war. Und dann noch, als er Ministerpräsident wurde. Seither habe ich ihn nicht mehr getroffen. Unsere Sicherheitsbehörden raten mir dringend von Reisen in die Türkei ab.

Würden Sie als Außenminister in die Türkei reisen?

Noch mal: Das Amt kommt zum Manne oder zur Frau und nicht umgekehrt. Ich kann aber verstehen, dass es einen gewissen Reiz hätte, wenn ein deutsches Kabinettsmitglied mit türkischen Wurzeln in die Türkei reisen und dort deutsche Interessen vertreten würde. Das würde den Teil der türkischen Gesellschaft stärken, der sich gegen Erdogan wehrt. Und das ist mindestens die Hälfte der Bevölkerung.