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Bundeswehr Bundeswehr: Vergewaltigung einer Soldatin war kein Einzelfall

Von Markus Decker 23.08.2012, 17:45

Berlin/MZ. - Die Tat in der Heeresfliegerwaffenschule der Bundeswehr im niedersächsischen Bückeburg hätte perfider kaum sein können. Dort vergewaltigte vorige Woche ein noch unbekannter Täter eine 25-jährige Unteroffizierin, fesselte sie und sperrte sie in einen Spind. Neben der sexuellen Erniedrigung ging es ihm offenbar darum, Macht zu demonstrieren.

Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hellmut Königshaus, sprach von einem Einzelfall. Er habe keinen Anlass, "von einem größeren Ausmaß an sexueller Belästigung oder sexuellen Übergriffen in der Bundeswehr auszugehen", sagte der FDP-Mann. Tatsächlich tauchen in seinem Jahresbericht für 2011 bloß zwei Fälle auf; in einem Fall hatte ein Soldat auf der Stube einer Kameradin eine Kamera installiert. Legt man die verfügbaren Daten zugrunde, verwundert Königshaus' Einschätzung. Denn es gibt jede Menge Einzelfälle.

Zwar berichten Frauen wie Barbara Mück durchaus Positives. Die 52-jährige Ethnologin war 2006 fünfeinhalb Monate im Kongo eingesetzt und insgesamt fünf Jahre hauptberuflich bei der Bundeswehr engagiert. "Zu meiner Überraschung war das überhaupt kein Thema", sagt sie. Der Umgang miteinander sei "sehr respektvoll" gewesen. Nur einmal sei sie recht offensiv angemacht worden. Mück betont allerdings, dass sie es überwiegend mit Offizieren zu tun hatte. Sie könne sich vorstellen, "dass es die Frauen in den Mannschaftsdienstgraden nicht leicht haben". Die Fakten geben ihr Recht.

So ging die Bundeswehr in den vergangenen fünf Jahren fast 400 Mal dem Verdacht auf sexuelle Vergehen nach. Allein 2011 wurden 78 Übergriffe oder Belästigungen mit Beteiligung mindestens eines Soldaten registriert - von Vergewaltigungen über Kindesmissbrauch bis zur Verbreitung von Kinderpornografie und Verbalattacken. Darunter waren 30 mutmaßliche Vergehen von Soldaten an Soldaten.

Auffällig ist zudem, dass Gerhard Kümmel, wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, noch vor einer Woche in der Tageszeitung "taz" wissen ließ, dass von Einzelfällen nicht die Rede sein könne, während der Geschäftsführer des Instituts, Ernst-Christoph Meier, später korrigierte, dass Kümmel auf der Basis veralteter Daten argumentiere. Meier fügte hinzu, sexuelle Gewalt in der Bundeswehr sei seltener als in anderen Streitkräften oder Unternehmen. Kümmel darf sich inzwischen nur noch mit Genehmigung äußern.

Der nun schweigsame Sozialwissenschaftler hatte 2008 eine umfangreiche Studie zum Thema präsentiert - die erste Studie, seitdem Frauen Anfang des vorigen Jahrzehnts Einzug in die Bundeswehr hielten. Das Papier hat es in sich. So berichteten 58 Prozent der Befragten von sexistischen Bemerkungen, 19 Prozent von unerwünschten sexuellen Berührungen und Annäherungsversuchen und 4,6 Prozent von regelrechter sexueller Gewalt. Im Durchschnitt der Bevölkerung klagten vor zwei Jahren 22 Prozent der Frauen über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, neun Prozent aller Frauen waren schon einmal Opfer sexueller Gewalt geworden. Kümmel kommt mithin zu dem Schluss, "dass sexuelle Belästigung auch in deutschen Streitkräften keineswegs eine zu vernachlässigende Erscheinung ist".

Die Details seiner Studie sind nicht minder interessant. So gibt es mehr männliche Täter als weibliche. Im Umkehrschluss bedeutet das: Es gibt sowohl männliche Opfer als auch weibliche Täter. Ferner steigt das Risiko, Opfer sexueller Gewalt zu werden, mit dem Hierarchiegefälle. Dies ist im zivilen Berufsleben ähnlich. Hier ist das Risiko für Frauen in ungeschützten Positionen am größten. Und schließlich gaben drei Viertel aller 584 in der Kümmel-Studie befragten Frauen an, Fälle sexueller Belästigung nicht gemeldet zu haben. Viele meinten, dabei komme doch nichts heraus; beinahe 18 Prozent erwarteten, dass es im Falle einer Anzeige nur noch schlimmer würde. Die Befürchtungen der Frauen waren zumindest damals so unberechtigt nicht; in 20 Prozent aller gemeldeten Fälle gingen die Vorgesetzten Anschuldigungen nicht nach.

In anderen Ländern sieht es ähnlich aus. In einer Befragung von mehr als 3 600 weiblichen US-Veteranen gaben 23 Prozent sexuelle Gewalterfahrungen während ihres Dienstes an; das US-Verteidigungsministerium hatte drei Jahre zuvor die Zahl vier genannt.

Eine Umfrage in den belgischen Streitkräften 1998 brachte zutage, dass 35 Prozent der Frauen mit pornografischem Material konfrontiert worden waren, weitere 28 Prozent mit offenen sexuellen Angeboten und sich 39 Prozent unerwünschten Berührungen ausgesetzt sahen.

"Im September will sich der Verteidigungsausschuss des Bundestages dem Thema zuwenden", teilte die Vorsitzende Susanne Kastner (SPD) über ihr Büro der MZ mit. Im Übrigen lehnte sie eine Stellungnahme ab.

In Bückeburg wird indes nach dem Vergewaltiger der Soldatin noch gesucht.