Bundeswehr in Afghanistan Bundeswehr in Afghanistan: Afghanistan rutscht ins Chaos ab

Berlin - Eine unscheinbare Meldung, die unterging im öffentlichen Interesse am Flüchtlingsproblem und den Sanierungsverhandlungen mit Griechenland: „Deutsche MedEvac-Hubschrauber wieder nach Afghanistan“. Die Geräte sind das Beste, was die Bundeswehr (und die Nato) hat, um Schwerverletzte schnell zu versorgen und auszufliegen. Wenig später veröffentlichte das Verteidigungsministerium auf seiner Internetpräsenz einen Artikel „Wie reagieren die deutschen Soldaten auf die jüngsten Anschläge?“, der wohl vor allem den Zweck hatte, deren Angehörigen und Freunden zu signalisieren: Es geht ihnen gut – auch wenn Sachschaden entstand im deutschen „Camp Quasaba“.
Fast täglich Anschläge und Hinrichtungen
Beim Anschlag auf die benachbarte amerikanische Bastion „Camp Integrity“ gab es nämlich Tote und Verletzte. Allein in Kabul wurden jüngst bei einem einzigen Attentat 15 Menschen getötet und mehr als 400 verletzt. Die Lage am Hindukusch ist gespannt wie noch nie seit dem offiziellen Abzug der Internationalen Schutztruppe Isaf.
Fast täglich gibt es Anschläge oder Hinrichtungen, wie zuletzt die einer jungen Frau, der Ehebruch vorgeworfen wurde. Der frühere Bundestagsabgeordnete der Grünen und Afghanistanexperte Winfried Nachtwei fürchtet sogar, „dass Afghanistan wegrutscht“.
Rund 5000 Regierungssoldaten sind seit Jahresbeginn gefallen. Fast 1600 unbeteiligte Zivilisten sind im ersten Halbjahr 2015 durch Kriegshandlungen und Anschläge im Land ums Leben gekommen. Die UN-Beobachter-Mission (Unama) zählte darüber hinaus über 3200 Verletzte. Das sind noch einmal rund ein Prozent mehr als im vorigen Jahr.
Vor allem Kinder und Frauen deutlich stärker betroffen
In dem großen allgemeinen Superlativ sind mehrere „kleine“, umso besorgniserregendere verborgen. Besonders „verstörend“ findet Denielle Bell, Unama-Direktorin für Menschenrechte, dass die Zahl der getöteten Frauen um 23 Prozent, die der getöteten Kinder um 13 Prozent gestiegen ist. Alle Konfliktparteien müssten erheblich größere Anstrengungen unternehmen, um zivile Opfer zu vermeiden, fordert sie angesichts der jüngsten Zahlen.
Nicht weniger dramatisch eine andere Steigerung: Zwar sind weiterhin die meisten Opfer dem Wirken von Taliban und Co. zuzuschreiben. „Nur“ 16 Prozent wurden von Regierungstruppen und verbündeten Milizen getötet oder verletzt. Doch gegen über dem vergangenen Jahr ist der Anteil um rund 60 Prozent gestiegen – eine Entwicklung, die kaum zur Verankerung des Regimes im Volk beitragen dürfte.
Nach der Sommerpause muss sich die Regierung erklären
Ende des Jahres endet das Mandat der Bundeswehr für die Beteiligung an „Resolute Support“. Aktuell schöpft sie die Obergrenze von 850 Soldaten voll aus. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums versicherte gegen über dem Blog „Augen geradeaus“, dass die Verstärkung der MedEvac Einheit, die dänische Soldaten ersetzen müsse, nicht zur Ausweitung des Kontingents führe.
Nach der Sommerpause wird die Regierung allerdings im Parlament einen Anschlussauftrag beantragen müssen – und offiziell mitteilen, wie sie die Lage einschätzt. Rolf Mützenich, in der Spitze der SPD-Bundestagsfraktion für Außen- und Sicherheitspolitik zuständig, geht im Gespräch mit der Berliner Zeitung nicht davon aus, dass das deutsche Kontingent ausgeweitet wird.
Fast 10.000 US-Soldaten bleiben
Die USA hatten zunächst geplant, im Lauf dieses Jahres nicht mehr als 5500 Soldaten in Afghanistan stationiert zu haben. Nun sollen aufgrund der unsicheren Lage bis Ende des Jahres fast 10 000 in der offiziell als Ausbildungsmission bezeichneten Truppe bleiben.
Der Abzug der UN-Schutztruppe Isaf habe kein „sicheres Umfeld“ geschaffen, wie man versprochen habe, kritisiert Winfried Nachtwei. Im Gegenteil: Der Wegfall der alliierten Luftunterstützung für die Regierung ermögliche den Aufständischen immer größere Operationen. Es sei ein Abzug „ohne Rücksicht auf Verluste“ afghanischer Sicherheitskräfte und Zivilisten gewesen. „Bundesregierung und Bundestag werden sich in den nächsten Monaten dieser Realität stellen müssen“, fordert Winfried Nachtwei. Ob das die Stationierung zusätzlicher Soldaten bedeuten kann, lässt er offen.