Bundestagswahl Bundestagswahl: «Die SPD will die Initiative»
HALLE/MZ. - Everhard Holtmann ist Politologe an der Universität Halle und Kenner der Sozialdemokratie. Über den SPD-Wahlkampfauftakt sprach mit ihm unser Redakteur Kai Gauselmann.
Herr Holtmann, es dauert noch mehr als ein halbes Jahr bis zur Wahl - verschießt die SPD nicht zu früh ihr Pulver?
Holtmann: Der SPD muss daran gelegen sein, bei derzeit für sie immer noch wenig günstigen Ausgangsbedingungen rechtzeitig Strategiefähigkeit zu gewinnen. Das beinhaltet unter anderem, dass sie rechtzeitig öffentlich Positionen bezieht, die ihr Profil schärfen.
Die SPD startet also so früh, weil sie aus der Defensive kommt?
Holtmann: Die SPD wirft ja nur in der kompakten Form des Wahlprogramms als erste ihre Steine ins Wasser. Die anderen Parteien haben einzelne Wahlkampfthemen längst schon aufgerufen. Etwa die CSU mit der Forderung von Steuersenkungen.
Ein Wahlprogramm haben die anderen aber noch nicht präsentiert.
Holtmann: Bei ihrem frühen Start mag sich die SPD ausrechnen, dass sie so die Agenda, die Themen, besetzen kann. Und damit die anderen Parteien nötigt, die SPD-Vorschläge als Bezugspunkt zu nehmen.
Entlastung für kleine und mittlere Einkommen, mehr Reichen- und Börsensteuer: beim Wahlprogramm hat sich die Parteilinke durchgesetzt. Woran liegt das?
Holtmann: Die SPD hat seit Beginn der Auseinandersetzungen um die Hartz-IV-Gesetze, die in Teilen der Öffentlichkeit höchst unpopulär waren, damit zu kämpfen, dass ein Teil ihrer Stammwählerschaft - Arbeitnehmer, deren soziale Lage vergleichsweise bescheiden ist - von ihr abgerückt ist. Derzeit stabilisiert sich die Partei auf niedrigem Niveau und pendelt um die 25 Prozent. Das ist zu wenig, um nach der Wahl in die Koalitionsbildung prägend eingreifen zu können. Das jetzt präsentierte steuerpolitische Maßnahmenbündel der SPD ist aus dem Kalkül heraus zu erklären, Teile der Stammwählerschaft zurück zu gewinnen. Das kann man durchaus als Akzentuierung linker Positionen beschreiben.
Also ist Hauptgegner der SPD die Linkspartei und nicht die Union?
Holtmann: Es sind beide. Die SPD hat von beiden Seiten her Konkurrenz. Das Dilemma der SPD, und aller großen Volksparteien, ist ja, dass sie jeweils auch ihre linke und rechte Flanke decken müssen. Gerade unter den aktuellen, weltweit schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen, ähnelt das allerdings der Quadratur des Kreises. Die steuerpolitischen Vorschläge der SPD sind da vor allem der Versuch, den linken Rand zu festigen und in der Auseinandersetzung mit der Linkspartei die Initiative zurück zu gewinnen. Das hat auf der anderen Seite den Nachteil, dass die SPD möglicherweise die Wechselwähler der Mittelschichten,deren wirtschaftliche Lage im übrigen ebenfalls zunehmend prekärer wird, gar nicht oder nur unzureichend ansprechen kann.
Kann Frank-Walter Steinmeier als Erfinder der Agenda 2010 diese Steuer-Wohltaten für den kleinen Mann glaubwürdig vertreten?
Holtmann: Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ein großes Hindernis ist. In der Öffentlichkeit wird er als federführend mit der Agenda 2010 wohl nur selten in Verbindung gebracht. Wahlkämpfer spekulieren nicht ohne Grund auf ein kurzes Gedächtnis der Wähler.
Die SPD muss aus der Regierung heraus eine Wechselstimmung gegen die Kanzlerin und ihre Partei erzeugen. Das klingt nach Operation am offenen Wählerherzen, kann das überhaupt gelingen?
Holtmann: Das ist sicher schwer, zumal in Zeiten, wo sich die SPD ihrer eigenen Stammwählerschaft eben nicht mehr sicher sein kann. Anders war dies etwa noch 1998, wo das Verhältnis der SPD zum Kern ihrer Wählerschaft noch nicht reparaturbedürftig war. Damals konnte sie sich darauf konzentrieren, unzufriedene Wechselwähler der Mitte von der Union herüber zu ziehen. Das war eine vergleichsweise einfache Wettbewerbskonstellation, die sich so nicht mehr herstellen lässt. Denn der SPD ist mit der Linkspartei, nicht mehr nur regional im Osten, ein ernstzunehmender Konkurrent erwachsen. Auf der anderen Seite kann die SPD für sich ins Feld führen, dass sie in der Regierung - mit Außenminister Steinmeier und dem Bundesfinanzminister Peer Steinbrück - personell für ein Krisenmanagement steht, das in der Bevölkerung mehrheitlich gut geheißen wird.
Muss die SPD bei dieser schwierigen Ausgangslage nicht schon froh sein, wenn sie zulegt und es erneut als Juniorpartner in eine Große Koalition schafft?
Holtmann: Wenn die SPD im Vergleich zu ihrem letzten Wahlergebnis zulegen würde, wäre das ein ansehnlicher Erfolg. Dann müsste sie nämlich mindestens um die 35 Prozent erringen - derzeit liegt die SPD in Umfragen bis zu zehn Prozentpunkten darunter.
Das eigentliche Ziel der SPD muss also Stabilisierung heißen?
Holtmann: Ja. Eines der strategischen Teilziele ist es, die eigene Anhängerschaft zu stabilisieren. Das hat aber eben das Risiko, auf der anderen Seite des politischen Spektrums nicht genug zu punkten. Das ist das Dilemma der SPD.