Besuch in Goslar Besuch in Goslar: SPD-Chef Sigmar Gabriel ist zur Kanzlerkandidatur entschlossen

Goslar - Eigentlich müsste er jetzt zuhause den Tisch decken. In der Frühe hat er in Berlin als Vertreter der urlaubenden Kanzlerin die Kabinettssitzung geleitet, dann den Mittagszug nach Goslar genommen und um kurz nach drei Uhr seine Tochter Marie aus der Kita abgeholt. Ein paar Besorgungen und Erledigungen schließen sich gewöhnlich an. Um 18.30 Uhr sperrt Ehefrau Anke ihre Zahnarztpraxis zu. „Die Anforderung ist, dass ich dann gefälligst für das Abendessen zu sorgen haben“, sagt Sigmar Gabriel schmunzelnd.
Stattdessen steht der Vizekanzler an diesem Mittwochabend in Polohemd und Sakko vor der tausend Jahre alten Kaiserpfalz hoch über den roten Ziegeldächern seiner Heimatstadt und hält einen eloquenten stadthistorischen Vortrag mit aktuellen politischen Bezügen. Hier, „wo das historische Zentrum Deutschlands gelegen hat“, ist er vor 56 Jahren als Sohn eines Alt-Nazis geboren worden und hat sich nach einer schwierigen Kindheit politisch sozialisiert. Mit Zwanzig protestierte er trotz der Mahnung der SPD-Führung zur Zurückhaltung („Ich hab‘ mir gedacht: Die ha’m sie nicht alle!“) mit einem versprengten Häuflein von Krakeelern gegen eine Kundgebung von Franz-Josef Strauß. Der erste politische Auftritt brachte Gabriel die Androhung eines Parteiausschlusses ein. Dazu kam es dann zwar nicht. Aber der SPD-Chef erzählt die Geschichte immer noch gerne.
Vorne eine bronzene Reiterstaue von Kaiser Barbarossa („der ist bei seinem letzten Kreuzzug nach Jerusalem in der Türkei gestorben“). Rechts der Stammsitz der Industriellenfamilie Siemens („die kamen von hier, nicht aus München!“). Und in der Ferne vor der Silhouette des Harzes das Grundstück Gabriels, dessen Mutter aus Ostpreußen und dessen Vater aus dem Erzgebirge kam. „Wir sind Flüchtlinge“, sagt Gabriel selbstverständlich. Irgendwie wirkt Goslar wie ein Konzentrat der Republik.
Provinz als vermeintliches Idyll
Es ist kein Zufall, dass Gabriel die Berliner Hauptstadtpresse in diesen 50.000-Seelen-Ort geladen hat. Hier hat er die schlimmsten Qualen seines Politikerlebens durchlitten, als er 2003 den Ministerpräsidenten-Posten verlor und zum Pop-Beauftragten der SPD schrumpfte: Die Provinz als Schicksal. Hier hat er gegen das Berliner Polit-Establishment gewettert, wenn es die Medien mal wieder nicht gut mit ihm meinten. Berlins Mitte gehe ihm „manchmal einfach auf den Geist“, sagte er im Sommer 2013: „Deutschland ist eher wie Goslar. Die normalen Menschen ticken nicht so weltfremd und schräg wie die Politikversteher in Berlin-Mitte.“ Die Provinz als vermeintliches Idyll.
Erste Umrisse der Wahlkampfstrategie
Doch inzwischen ist er Vizekanzler, und in den vergangenen Monaten ist in ihm eine Entscheidung gereift: Er will im nächsten Jahr als SPD-Kanzlerkandidat antreten. Offen sagt er das nicht. Erst Anfang 2017 soll die Entscheidung offiziell fallen. Aber wer Gabriel beobachtet, hat keine Zweifel. Nun muss der Kandidat an Tiefe und Menschlichkeit gewinnen. Eine Illustrierten-Homestory mit seiner Frau und der vierjährigen Tochter im 3000 Quadratmeter großen Garten machte vor ein paar Wochen den Anfang. Bereitwillig erklärte Ehefrau Anke, sie werde weiter als Zahnärztin praktizieren, wenn Gabriel ins Kanzleramt einziehe. Nun geht Gabriel mit der öffentlichen Tour zu seinen biografischen Wurzeln den nächsten Schritt.
„Wer wissen will, wie Sigmar Gabriel wirklich ist, muss ihn in Goslar erleben“, haben langjährige Vertraute des SPD-Chefs schon immer gesagt. In dem mittelalterlichen Bilderbuchstädtchen mit Kopfsteinpflaster und viel Fachwerk erlebt man einen Politiker, der mit sich im Reinen zu sein scheint. Die schlechten Umfragen? Ach was, erstmals bröckelt das Ansehen von CDU-Chefin Angela Merkel. Der SPD-interne Streit über das Freihandelsabkommen Ceta? Ärgerlich, aber lösbar. Die Klatsche des Düsseldorfer Oberlandesgerichts wegen der Edeka-Tengelmann-Fusion? Stört in der SPD kaum jemand. Notfalls gibt Gabriel halt den Robin Hood der kleinen Verkäuferinnen, für deren Arbeitsplätze er tapfer kämpft.
Hört man dem ungewöhnlich aufgeräumten SPD-Chef in länger zu, werden auch erste Umrisse einer Wahlkampfstrategie ahnbar. Von der Bodenständigkeit der Menschen hier redet er viel. Von einer Welt, in der es um Kitas, Verkehrsberuhigung und die Rente geht. Von dem Bedürfnis nach Halt und Sicherheit inmitten der beängstigenden Veränderungen durch Globalisierung, Flüchtlingskrise und Terrorgefahr. Fertig ausformuliert ist das noch nicht. Aber es gärt in ihm. Irgendetwas wird er daraus machen.
Der Erfolg ist keineswegs garantiert. Im Gegenteil. Geht die Bundestagswahl 2017 verloren, dürfte das für Gabriel das Ende seiner Karriere bedeuten. Ganz fremd ist ihm der Gedanke offenbar nicht. In Goslar berichtet er von seiner früheren Arbeit in der Erwachsenenbildung, wo er Deutsch für Ausländer unterrichtete. Damals waren es Spätaussiedler. Heute wären es Flüchtlinge. Der Arbeitsvertrag ruht nur: „Ich könnte, wenn alles schief geht, sofort wieder anfangen“, sagt er.