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Der Schatten der Mauer wird kürzer Berliner Mauer: "Sie ist nun solange weg wie sie stand"

Von Andreas Montag 03.02.2018, 09:00
Unter der Aufsicht von bewaffneten Volkspolizisten errichtet eine Ostberliner Maurerkolonne am an der sowjetisch-amerikanischen Sektorengenze am Potsdamer Platz eine Mauer.
Unter der Aufsicht von bewaffneten Volkspolizisten errichtet eine Ostberliner Maurerkolonne am an der sowjetisch-amerikanischen Sektorengenze am Potsdamer Platz eine Mauer. UPI_dpa

Berlin - Den 13. August 1961 habe ich als sonnigen Sommertag in Erinnerung. Ein Sonntag obendrein. Ich war fünf Jahre und fünf Monate alt. Zu klein, um alles - groß genug, um einiges mitzubekommen vom Lauf der Welt.

Die Ruhe wurde von einer Radiomeldung des Deutschlandfunks unterbrochen. Ich verstand nicht, worum es ging, ich wusste ja nicht einmal, wo Berlin lag. Aber ich sah, wie meine Mutter zu weinen begann, und das machte mir Angst.

Dieser Moment ist mir eingeprägt wie jener andere, gut zwei Jahre später, als am 22. November 1963 der US-Präsident John F. Kennedy in Dallas (Texas) erschossen worden war.

Beide Ereignisse sind Landmarken meiner Kindheit, die am 6. Oktober 1969, dem Vorabend des 20. Jahrestags der DDR ausgerechnet in Ostberlin den Anfang vom Ende nahm. Und wieder ging es auch um die Mauer.

Aber was geht uns die Mauer an?, werden Sie sich fragen. In unserer Gegenwart, die Probleme satt hat? Und wenn schon daran erinnern - weshalb ausgerechnet am 3. Februar 2018 und nicht am 13. August, am Tag, an dem ihr Bau im Jahr 1961 begonnen wurde?

Oder eben am 9. November, jenem ungleich schöneren Tag, an dem sie 1989 geöffnet wurde und schlagartig ihren ganzen Schrecken verlor?

Die Erklärung ist einfach: Anfang kommender Woche hat Walter Ulbrichts Vermächtnis an die Deutschen, das Kainsmal des Kalten Krieges, seine Halbwertzeit in der Geschichte überschritten.

Die Mauer hatte 28 Jahre, zwei Monate und 27 Tage lang Bestand, ebenso lange wird es am Montag her sein, dass sie gefallen ist.

Ihr Schatten wird kürzer. Herausgefunden hat das mein Kollege Ronald Dähnert, den das bewegt, weil er am 6. Februar seinen Geburtstag an jenem Tag feiern kann, da die Mauer länger weg sein wird, als sie stand. Grund genug, den Blick einmal anders auf jenes scheußliche Bauwerk zu richten, das Leid, Trennung und Tod bedeutet hat.

Mindestens 139 Menschen haben ihr Leben beim Versuch verloren, sich den Weg in die Freiheit zu bahnen. Die Angaben schwanken allerdings, es werden auch deutlich höhere Zahlen genannt. Die SED-Chefs und das Ministerium für Staatssicherheit hatten größtes Interesse daran, diese Dinge zu verschleiern.

„Abhauen“ sagte der Volksmund, „Republikflucht“ hieß es im offiziellen Sprachgebrauch der DDR, war ein Straftatbestand und wurde, konnte der Flüchtling festgenommen werden, von den Gerichten mit Zuchthausstrafen geahndet.

Den Toten weinten die Funktionäre keine Träne nach, auch später nicht: Jeder Ostdeutsche hätte gewusst, dass der Versuch des illegalen Grenzübertritts nach Westen schlimme Folgen nach sich ziehen könnte.

Das ist zynisch. Aber was hätte man von Leuten auch anderes erwarten sollen, die es legitim fanden, ihr Volk einzumauern unter dem Vorwand, es zu schützen? Die Mauer hat viele Tränen gekostet, zuletzt auch solche der Freude.

Der Tag, als die Westgrenze der DDR endgültig abgeriegelt wurde, liegt für viele Jüngere hingegen längst im Nebel der Historie, fast im Märchenland.

Wie war es damals und in den Jahren danach wirklich? Hier empfiehlt es sich zwingend, Ich zu sagen. Ausnahmsweise auch einmal in der Zeitung, wo das sonst nicht nicht üblich ist.

An jenem 6. Oktober 1969, die Mauer stand bereits seit acht Jahren, marschierte ich, inzwischen 13 Jahre alt, gemeinsam mit Tausenden anderer mehr oder weniger überzeugter Jungsozialisten die Straße Unter den Linden entlang und vorbei an der Tribüne, auf der Mauerbauer Ulbricht, der „Spitzbart“, die Parade abnahm.

Etliche von uns hatten sich heimlich abgesetzt. Der Westberliner Radiosender Rias sollte gemeldet haben, die Rolling Stones würden direkt an der Mauer spielen: „drüben“ natürlich.

Ich aber zog nicht nur brav, sondern in Ergriffenheit mit einer rußenden Fackel ausgestattet wie die anderen aus der „Kampfreserve der Partei“ in Richtung Alexanderplatz, wo der eben eröffnete Fernsehturm seine silberne Kugel blitzen ließ. Und ich heulte, so eins fühlte ich mich mit meinem Staat.

Diese Manipulation habe ich der SED nie verziehen. Und ich habe mich zugleich für meine blinde Gefolgschaft geschämt. Dass dieser Fackelzug vom Oktober 1969 auf fatale Weise an jenen der Nationalsozialisten vom Januar 1933 erinnerte, habe ich erst viele Jahre später gesehen.

Da stand die Mauer allerdings noch, auf die ich zulief, wenn ich am Prenzlauer Berg einen Freund besuchte. Und jenseits der Mauer, die weiß und kalt und bedrohlich aussah, waren auf einem Ausguck knipsende West-Touristen zu sehen, wie Jäger auf dem Hochsitz.

Da lief ich belämmert durch meinen Ost-Zoo und fühlte mich eingesperrt. 1988, als mir als Autor ein Reiseprivileg zuteil geworden war, stieg ich selbst auf diesen Turm, blickte in den Osten und hätte kotzen mögen.

Nicht anders erging es mir in Steinstücken, einer Exklave im Süden West-Berlins, die nach Potsdam-Babelsberg hineinwuchs. In der Kneipe des berühmten Fleckens, karierte Decken auf Holztischen, wagte ich nicht, meine Ost-Zigaretten auszupacken.

Dem Schatten der Mauer entkommt, der sich umdreht nach ihm. Dann wird der Schatten kleiner. Von jetzt an sowieso. Jeden Tag. (mz)