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Autobiografie von Horst Sindermann  Autobiografie von Horst Sindermann : Egon Krenz mit schlechtem Gewissen und Zorn

31.08.2015, 08:34
DDR-Volkskammerpräsident Horst Sindermann (l) bei einem Treffen mit dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt (r) am 20. Februar 1986.
DDR-Volkskammerpräsident Horst Sindermann (l) bei einem Treffen mit dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt (r) am 20. Februar 1986. dpa Lizenz

Berlin - Zorn und schlechtes Gewissen - der letzte SED- Generalsekretär, Egon Krenz, hat das Vorwort zu einem neuen Buch geschrieben. Es sind Lebenserinnerungen des einstigen Mitstreiters Horst Sindermann, langjähriger Präsident der DDR-Volkskammer, von 1976 bis zum 13. November 1989. Im 25. Jahr der Einheit kommt nun am Donnerstag seine Autobiografie „Vor Tageslicht“ heraus. Sindermann wurde vor 100 Jahren, am 5. September 1915 geboren. Er starb am 20. April 1990.

Das schlechte Gewissen habe ihn überfallen, schreibt der heute 78-jährige Krenz, weil er über den Genossen nur wenig gewusst habe - obwohl sie doch im SED-Politbüro jahrelang zusammen saßen und als Nachbarn in Wandlitz gelebt hätten. Und Zorn sei in ihm aufgestiegen, dass heute Biografien von Kommunisten pauschal mit dem Zensurstempel "stalinistisch" versehen würden, wettert Krenz. Sie würden vom politischen Mainstream aus der deutschen Geschichte ausgeschlossen.

Fast zwölf Jahre in Konzentrationslagern

In dem Buch geht es vor allem um den jungen Sindermann, der fast zwölf Jahre in Konzentrationslagern saß. Als 18-Jähriger sei er 1933 das erste Mal verhaftet worden, notierte er. Erst jetzt wurde durch die Aufzeichnungen laut Eulenspiegel-Verlagsgruppe bekannt, dass Sindermann im KZ Sachsenhausen in der Verpflegungsstelle der SS-Kommandatur als Schreiber Aufzeichnungen fälschte und Lebensmittel, die für die Wachmannschaften bestimmt waren, ins Krankenrevier geschmuggelt werden konnten.

So hätten Häftlinge wieder auf die Beine kommen können. „Ein zu langer Lazarettaufenthalt endete meist tödlich“, erinnerte sich Sindermann, der wegen antifaschistischen Widerstandes inhaftiert war. Drei Jahre lang blieben die geheimen Aktionen unbemerkt, dann sei die illegale Lagerleitung im Herbst 1944 aufgeflogen. 28 Häftlinge seien erschossen und Dutzende ins KZ Mauthausen verlegt worden, darunter Sindermann.

Der überzeugte Kommunist habe später nicht über seinen Einsatz bei den lebensrettenden Lieferungen von Brot, Butter oder Wurst in Sachsenhausen gesprochen, offenkundig habe er sich nie damit gebrüstet, sagt Verleger Frank Schumann. Er hoffe auf eine differenziertere Beurteilung als „bislang üblich“.

1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle

1945 stand Sindermann ohne Berufs- und Schulabschluss da. In der SED machte er aber schnell Karriere. Chefredakteur von Regionalzeitungen in Dresden, Chemnitz und Halle, Leiter der Agitationsabteilung im Zentralkomitee der SED, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle, Ministerpräsident, Volkskammerpräsident. Die Aktivisten der ersten Stunde hätten oft Aufgaben übernommen, von denen sie zunächst keine Ahnung hatten, so Vorwort-Schreiber Krenz. „Die Praxis wurde ihr Lehrmeister.“

Der SED-Funktionär hatte in der legendären Pressekonferenz am 9. November 1989 fast beiläufig die Öffnung der Mauer verkündet. Nach dem Untergang der DDR brach er mit seiner Vergangenheit und bekannte sich zu moralischer Schuld. Heute ist der 85-Jährige schwer krank. „Mein Mann ist sehr, sehr geschwächt“, sagt seine Frau Irina Schabowski. Die Familie wollte an diesem 9. November zusammen sein und an den „sehr bewegenden Tag“ vor 25 Jahren denken.

Der Korrespondent der italienischen Nachrichtenagentur Ansa stellte Schabowski damals am 9. November die Frage, die die Welt veränderte: die nach dem Reisegesetz. Heute lebt der 84-Jährige mit seiner Frau in Madrid, wo auch seine letzte Station als Korrespondent war. Zum Mauerfall ist er diesmal nicht nach Berlin gekommen, die Ereignisse beschäftigten ihn aber immer noch. „Selbstverständlich!“, sagt er. „Das war keine kleine Sache.“

Der SED-Politiker, nach dem Sturz Erich Honeckers Mitte Oktober 1989 einige Wochen Staats- und Parteichef, wurde 1997 wegen der Mauertoten zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Heute lebt der 77-Jährige als Rentner im Ostseebad Dierhagen. Im dpa-Gespräch weist er darauf hin, dass er sich schon 1997 bei DDR-Bürgern entschuldigt habe, denen Unrecht angetan wurde. „Ich kenne aber leider auf der ganzen Welt keinen Staat, in dem es nicht auch Unrecht gibt.“

Der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin ist als Mann mit dem roten Schal in Erinnerung geblieben. Der SPD-Mann stand am 9. November 1989 genauso glücklich wie die Menschen um ihn herum am Grenzübergang Invalidenstraße. Nur nicht ganz so überrascht. Denn Schabowski hatte ihm schon Ende Oktober gesagt, dass die DDR Reisefreiheit gewähren werde. Momper zog sich 2011 aus der aktiven Politik zurück. Heute arbeitet der 69-Jährige noch immer in seiner Firma, die Grundstücke bis zur Baugenehmigung entwickelt

Die langjährige Ministerin für Volksbildung der DDR lebt seit 1992 in Chile, wo auch ihre Tochter Sonja wohnt, die in der DDR einen Exil-Chilenen geheiratet hatte. Nach Einstellung seines Prozesses war ihr der schwer kranke Erich Honecker Anfang 1993 gefolgt. Er starb im Mai 1994. Die 87-Jährige lebt in Santiago im grünen Vorort La Reina, zu ihren Nachbarn zählt auch Staatschefin Michelle Bachelet, die einst in der DDR im Exil lebte. Margot Honecker pflegt zwar noch Kontakte zu ehemaligen Führungskräften der Kommunistischen Partei des Landes, lebt aber sehr zurückgezogen.

Der letzte DDR-Ministerpräsident aus den Reihen der SED hat sich schon vor Jahren aus der aktiven Politik zurückgezogen. 1989 galt er als Hoffnungsträger, im Oktober 1990 zog er für die PDS in den Bundestag ein, 1999 für die Linke ins Europaparlament. Seit 2004 hat er kein Parlamentsamt mehr. Trotzdem hat der 86-Jährige immer noch alle Hände voll zu tun. Als Vorsitzender des Ältestenrates der Linken geht er jeden Tag in sein Büro in der Parteizentrale in Berlin-Mitte. Zuletzt war er in Brasilien. Sein großer Traum? Eine Reise nach Indien.

Im Ausland galt Sindermann als kultiviert und freundlich. Aber auch politische Härte wurde ihm zugeschrieben. Dem 1976 ausgebürgerten DDR-Liedermacher Wolf Biermann drohte er: „Der Herr Biermann soll sich nicht wundern, wenn eines Tages statt des Milchmannes andere Leute vor seiner Tür stehen“.

Nummer drei der DDR-Führungsriege

Die Nummer drei der alten DDR-Führungsriege wurde nach dem Mauerfall von den eigenen Leuten aus der SED ausgeschlossen. Er erfuhr es aus dem Fernsehen. Anfang 1990 kam Sindermann bei Ermittlungen wegen Untreue und Vertrauensmissbrauchs in Untersuchungshaft. Aufgrund seiner schlechten Gesundheit wurde er bald wieder entlassen. Wenig später starb der Ex-Funktionär. Seine Familie übergab erst jetzt die Memoiren, die wegen des Todes nicht fertig wurden.

Krenz bedauert, dass Sindermann es nicht mehr schaffte, über das subjektive Versagen der DDR-Führung sowie eigene Fehler zu schreiben. Er hätte vermutlich analysiert, dass das Verschwinden der DDR vielerlei Ursache hatte, so der einstige Politfunktionär über einen Genossen, der nur sehr wenig über sich selbst sprach. (dpa)

Horst Sindermann, Autobiografie „Vor Tageslicht“, Edition Ost in der Eulenspiegel-Verlagsgruppe, ISBN 978-3-360-01871-7, 224 Seiten, 17,99 Euro

Egon Krenz spricht in Berlin am 24. Oktober 1989 in der DDR-Volkskammer, rechts Volkskammerpräsident Horst Sindermann.
Egon Krenz spricht in Berlin am 24. Oktober 1989 in der DDR-Volkskammer, rechts Volkskammerpräsident Horst Sindermann.
dpa Lizenz