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Auschwitz-Prozess Ausschwitz-Prozess in Detmold: SS-Mann Reinhold Hanning bricht nach 70 Jahren sein Schweigen

Von Michael Hesse 29.04.2016, 15:29
Der Angeklagte Reinhold Hanning in Detmold
Der Angeklagte Reinhold Hanning in Detmold dpa

Detmold - Er hat geschwiegen. Mehr als 70 Jahre lang. Doch nun hat er sein Schweigen gebrochen. „Es tut mir aufrichtig leid, dass ich Unrecht habe geschehen lassen“, sagt Reinhold Hanning. „Ich schäme mich.“

Hanning, 94 Jahre alt, verwitwet, ist angeklagt, als Mitglied des SS-Totenkopf-Sturmbanns, der Wachmannschaft im Konzentrationslager Auschwitz, Beihilfe zu mindestens 170 000 Morden geleistet zu haben. Zunächst ließ Hanning seine Anwälte sprechen. Sie verlesen eine Erklärung des im Rollstuhl sitzenden Mannes, der lange Jahre in Lade ein Milchgeschäft führte. Zur Überraschung aller, des Gerichts, der Staatsanwaltschaft und der zahlreichen Nebenkläger sprach er dann doch. „Ich wünschte, ich wäre nie in Auschwitz gewesen“, sagte er.

Mehr als eine Million Menschen ermordet

Er habe geschwiegen über die Zeit in dem größten Massenvernichtungslager der Menschengeschichte. Weder seine Frau noch seine Kinder hätten Kenntnis davon gehabt, dass er an jenem Ort als SS-Wachmann tätig war, der heute das Symbol des Holocaust ist. Mehr als eine Million Menschen wurden dort ermordet, mehr als 900 000 von ihnen waren Juden. „Ich habe sehr wohl gewusst, was dort geschah“, sagte Hanning mit gebrochener Stimme, sein Kinn zitterte leicht, der Kopf war gebeugt. Er bereue zutiefst, dieser verbrecherischen Organisation angehört zu haben. Er meint die SS.

„Wir begrüßen, dass Sie sich persönlich äußern“, sagte die Richterin Anke Gudda, die prüfen will, ob die Beweisaufnahme abgeschlossen wird. Möglicherweise endet der Prozess nun früher als gedacht.

Anwälte schildern Leidensweg

Bislang hatte Hanning seine Anwälte sprechen lassen, während er selbst in den vorherigen Prozesstagen teilnahmslos wirkte. Die Verteidiger hatten die Erklärung schon vor Wochen angekündigt. Da war der Angeklagte von Überlebenden von Auschwitz direkt angesprochen worden, sein Schweigen zu sprechen und zu berichten von den fürchterlichen Qualen der Menschen in dem Todeslager. Zu erzählen von der Hölle, die nur wenige überlebten. Und sie erinnerten ihn daran, dass diese Wenigen noch heute leiden, wenn sie schlafen und träumen oder Erinnerungen aus dem Lager plötzlich aufblitzen.

Die Anwälte hatten, bevor Hanning selbst das Wort ergriff, seinen Lebensweg geschildert. Dass er als Sohn eines Arbeiters im Kreis Lippe-Lemgo aufgewachsen sei mit zwei Schwestern. Es sei ein unpolitischer Haushalt gewesen, die Mutter starb früh, weshalb seine 15 Jahre alte Schwester den Haushalt führen musste. Der Vater war selten zu Hause. Es wurde hart gearbeitet. Auch Reinhold Hanning selbst arbeitete schon in jungen Jahren schwer. Mit 13 Jahren trat er in die Hitler-Jugend ein, da sei es aber vor allem um Sport gegangen. Auf einen Rat seines Großvaters meldete er sich zur Wehrmacht, auch weil viele Freunde eingezogen wurden. Er glaubte, so heimatnah stationiert zu werden. Doch die neue Freundin des Vaters riet ihm, zur SS zu gehen.

Granatsplitter im Schädel

Hanning wurde noch einmal gemustert, der Wehrmachtsbescheid, sagten die SS-Männer, sei nun obsolet. Der junge Mann aus der Stadt Lage wurde nach Graz in Österreich beordert, wo er seine Grundausbildung, den Dienst an der Waffe, absolvierte. Danach ging es zu Einsätzen in den Niederlanden, nach Serbien und später nach Russland. Er habe die Kameradschaft an der Front sehr geschätzt, sagt er. Dort nahm er an den Kämpfen um Kiew teil, der heutigen Hauptstadt der Ukraine. In dieser Region, das wird oft vergessen, wurden die meisten Juden getötet. Der Holocaust fand besonders hier statt, auch wenn Auschwitz als das Symbol des Massenmordes an den Juden gilt. Hanning wurde verwundet, ein Granatsplitter bohrte sich in seine Schläfe, sein Oberschenkel wurde durchschossen, Hanning wurde in den Innendienst nach Auschwitz versetzt.

„Ich wusste nichts über Auschwitz“, zitieren ihn die Anwälte. Er habe gedacht, es sei ein Gefangenenlager für Engländer oder Franzosen. Er war ab 1942 im Stammlager Auschwitz I. Das Todeslager Auschwitz-Birkenau wurde später errichtet. Auschwitz war ein Lagerkomplex, eine Mischung aus Arbeits- und Todeslager. Bei ihm hätte sich jeder melden müssen, der das Lager betrat.

Misshandelt, vergast, verbrannt

Erst nach einer gewissen Zeit habe er bemerkt, was dort geschieht. Er habe gewusst, dass Menschen getötet wurden, dass sie misshandelt wurden, dass sie vergast und verbrannt wurden. Sie kamen zusammengepfercht in Zügen an, wurden von deutschen Ärzten nach dem Eintreffen selektiert. Die einen gingen ins KZ, die anderen wurden als Arbeitskräfte missbraucht. Als er sich einmal zu Fuß Richtung Birkenau begeben habe, hätte ihn auf halber Strecke der Geruch der in den Krematorien brennenden Leichen erreicht. „Ich wusste sehr wohl, was dort geschah.“ Zweimal habe er versucht, sich versetzen zu lassen, so seine Schilderungen. Doch er wurde abgewiesen. In Auschwitz sei es darum gegangen, dass man funktioniert. Und das habe man den SS-Leuten sehr deutlich gemacht.

Aber er will auch etwas riskiert haben, für andere, die Gefangenen. Er habe einen Häftling aus Bielefeld in der KfZ-Werkstatt des Lagers getroffen. Dieser hatte ihm mehrmals innig darum gebeten, dessen Frau einen Brief mitzunehmen, sie wisse nicht, wo er abgeblieben sei. Nach mehrfachem Zögern aufgrund der Gefahr, die er für sich erkannte, überbrachte er den Brief. Auch einer fremden Frau will er durch einen Rat geholfen haben, dass sie sich unauffällig vom Lager entfernte.

Am Donnerstag soll Hanning auffallend blass gewesen sein. Ob dies mit der heutigen Erklärung zu tun hat, ist natürlich reine Spekulation. Als der Angeklagte zum Gerichtssaal gebracht wird, helfen ihm mehrere Menschen in den Rollstuhl, dann wird er ins Gericht gefahren. „Guten Morgen, Herr Hanning“, sagt ein Journalist. „Werden Sie heute sprechen?“

Da glaubte noch keiner daran. Er tat es dann doch. Vor Prozessbeginn wirkte er seltsam gelöst. Ein leichtes Lächeln war auf seinem Gesicht zu erkennen. Mehr als 70 Jahre Schweigen hat er heute beendet.