Auschwitz-Prozess Auschwitz-Prozess: Spätes Erwachen

Halle (Saale)/MZ - Ohne Fritz Bauer wäre es auch im Dezember vor 40 Jahren noch nicht soweit gewesen. Gegen den hinhaltenden Widerstand von Justizbehörden und Gesellschaft hatte der hessische Generalstaatsanwalt, der die Zeit des Dritten Reiches wegen seiner jüdischen Herkunft im Exil hatte verbringen müssen, über Jahre beharrlich gegen ehemalige SS-Angehörige ermitteln lassen, die im Vernichtungslager Auschwitz Dienst getan hatten.
Jetzt, am 20. Dezember 1963, 18 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, war es endlich soweit: Im Frankfurter Rathaus begann der größte Strafprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte. Drei Richtern und sechs Geschworenen saßen vier Staatsanwälte, drei Nebenklagevertreter, 19 Verteidiger und 22 Angeklagte gegenüber. Die Anklageschrift, die mehr als 700 Seiten umfasste, warf den Männern, darunter SS-Offiziere, Lagerärzte, Gestapo-Leute und ein sogenannter Funktionshäftling, Mord und Beihilfe zum Mord vor.
Eine Ungeheuerlichkeit
Für die Bundesrepublik der Wirtschaftswunderjahre ist das Verfahren mit dem Aktenzeichen 4 KS 2/63 eine Ungeheuerlichkeit. Zwar waren zwischen 1950 und 1952 fast 6 000 frühere Nazi-Kriegsverbrecher rechtskräftig verurteilt worden - wenig verglichen mit der DDR, die schon bis 1950 13 000 Kriegsverbrecher abgeurteilt hatte. Doch bald nach dem Beginn dieser juristischen Aufarbeitung erlahmte auch das beschränkte Interesse. 1954 gab es noch 44 Verfahren, 1956 nur noch halb so viele.
Ein Phänomen, das der Gothaer Rechtsanwalt Ralph Dobrawa in seinem Buch „Der Auschwitz-Prozess“ (Das Neue Berlin, 17,50 Euro) auf die Durchsetzung der neuen Justiz der Bundesrepublik mit den alten juristischen Eliten der Nazizeit zurückführt. „Es wurden auch Personen übernommen, die an der Abfassung von Todesurteilen oder an der Durchsetzung nazistischer Rassenpolitik beteiligt waren“, beschreibt Dobrawa, der den am Auschwitz-Prozess als Nebenklagevertreter beteiligten DDR-Fernsehanwalt Friedrich Karl Kaul als prägenden Einfluss für seine eigene Biografie nennt.
Diese personellen Überschneidungen hemmten das Bedürfnis, genauer hinzuschauen - mit teilweise absurden Folgen. So klagte ein ehemaliger SS-Mann, der nach dem Krieg unter falschem Namen ein Flüchtlingslager nahe Ulm geleitet hatte und entlassen wurde, als seine Vorgeschichte bekannt wurde, auf Wiedereinstellung. Erst durch einen Zeitungsnachricht über diese Klage erkannte dann ein zufälliger Leser in ihm einen Mann, der zu Kriegsbeginn an der Massenerschießung von Juden mitgewirkt hatte.
Angeklagte berufen sich auf Erinnerungslücken
Das Selbstbewusstsein der alten Eliten ist in jenem Dezember 1963 unerschüttert, das zeigt auch der Auftakt des Auschwitz-Prozesses. Die ersten zwölf Verhandlungstage bringen keinerlei Erkenntnisgewinn, weil die Angeklagten sich auf Erinnerungslücken berufen, Befehlsnotstand geltend machen und sich gegenseitig nicht belasten. Der Verteidiger Hans Laternser verschafft dem Morden juristische Legitimation: „Die Angeklagten haben an der berüchtigten Rampe von Auschwitz keineswegs Menschen ins Gas geschickt, sondern vielmehr andersherum Arbeitsfähige vor dem Gas bewahrt“.
Es ist ein Kampf der alten Mächte der Diktatur gegen die neuen Kräfte einer Demokratie, die ahnt, dass es keinen Neuanfang ohne juristisch durchgefochtenes Ende der Naziherrschaft gibt. Doch es ist nebenbei auch ein Kapitel des Kalten Krieges, das in Frankfurt geschrieben wird. Während die bundesdeutsche Seite bemüht ist, das späte Verfahren gegen die SS-Männer von Auschwitz als ganz normale Arbeit des Rechtsstaates hinzustellen, versucht Friedrich Karl Kaul, der für in der DDR lebende ehemalige Auschwitz-Häftlinge am Prozess teilnimmt, die Kontinuität der beiden Staaten zu zeigen. Für den Sohn eines jüdischen Textilhändlers, den die Gestapo schon 1935 verhaftet und ins KZ Lichtenburg eingeliefert hatte, stehen in Frankfurt nicht ein paar subalterne SS-Verbrecher vor Gericht, sondern ein System, das jederzeit wieder ins Verbrecherische kippen kann. Mit Hilfe eigener Sachverständiger wie etwa dem kommunistischen Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski versucht Kaul den Nachweis zu führen, dass eine gerade Linie von der IG Farben zu den Konzernen der jungen Bundesrepublik und damit auch eine Linie von Auschwitz nach Bonn führt.
Urteile zwischen lebenslang und Freispruch
Von der DDR wird der Anwalt dafür gefeiert, im Verhandlungssaal steht er meist allein. Aus heutiger Sicht mutet sein Kampf gegen die Hintermänner des millionenfachen maschinellen Mordens in Gegenwart von Tätern und Zeugen nur noch gefühllos an: Das Verbrechen und seine Opfer werden zur Waffe in einem ideologischen Kampf.
Der natürlich bei der Urteilsfindung keine Rolle spielt. Nach 183 Verhandlungstagen und 360 Zeugen, von denen 211 Überlebende von Auschwitz waren, fällt das Gericht am 6. Mai 1965 Urteile, die zwischen lebenslang und Freispruch liegen. Sechs Angeklagte, denen aus Eigeninitiative verübte Morde nachgewiesen wurden, müssen für immer ins Gefängnis. Andere, denen die Mitwirkung an der Massenvernichtung aus eigener Motivation zugeschrieben wird, kommen mit 3,5 bis neun Jahren davon. Drei der sechs Hauptangeklagten sterben später in der Haft, die drei anderen werden zum Teil hochbetagt vorzeitig entlassen. Im Dezember 1965 beginnt vor dem Landgericht Frankfurt am Main der zweite Auschwitzprozess, dem bis 1974 drei weitere folgen werden.
