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August 1992 in Rostock August 1992 in Rostock: Der Mob tobt, die Polizei versagt

Von Bettina Vestring 21.08.2012, 11:37

Rostock/MZ. - Die Sonnenblumen sind noch da. Die riesigen Blüten, geformt aus gelben, roten und grünen Backsteinen, die diesem Gebäude seinen freundlichen Namen gegeben haben. Vielleicht wäre es zu aufwändig gewesen, die Fassade in ihrer gesamten Höhe von elf Stockwerken zu erneuern. Vielleicht hatten die Rostocker auch Respekt vor der Geschichte. Denn hier, im Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, ist deutsche Geschichte geschrieben worden. Allerdings keine, auf die man stolz sein kann.

Zwanzig Jahre ist es her, dass schwarz gekleidete junge Männer, angespornt vom Beifall der Anwohner, sich zu den Balkons im ersten Stock des Sonnenblumenhauses hochhangelten, durch die kaputten Fensterscheiben einstiegen und Brandsätze warfen, in jedes Zimmer ein paar, bis es überall loderte. Bis in den sechsten Stock reichten die Flammen, gut zu sehen für die Polizisten, die dem Feuer aus der Ferne stundenlang untätig zuschauten. Etwa hundert Vietnamesen, die lange vor der Wende als Vertragsarbeiter in die DDR gekommen waren, flüchteten sich Etage für Etage nach oben. Schließlich gelang es ihnen, einen verschlossenen Notausgang aufzubrechen, um aufs Dach zu gelangen. Das rettete ihr Leben.

Die Menge hielt den Atem an

Was sich im Inneren des Hauses abspielte, bekam ich damals nicht mit. Erst später sah ich die verwackelten, schlecht beleuchteten Bilder, die ein ZDF-Team gemacht hatte, das sich bei den Vietnamesen im Gebäude befand. Ich stand damals vor dem Sonnenblumenhaus und schaute zu. Spürte, wie die Menschenmenge nach dem ersten Brandsatz den Atem anhielt, als konnte sie selbst nicht glauben, dass ein solcher Akt keine sofortige Strafe nach sich zog. Hörte, wie ein Mann aus einem der raucherfüllten oberen Stockwerke verzweifelt um Hilfe rief. „Holt uns hier raus, wir sind Deutsche!“, brüllte er. Was muss er für Angst gehabt haben.

Den Ausruf dieses Mannes habe ich in einem meiner alten Berichte wiedergefunden. Als Reporterin der Nachrichtenagentur Reuters brachte ich damals den ganzen Abend mit dem rechten Mob zu. Ohne Presseschild, denn für Journalisten hatte die rechte Szene schon damals nichts übrig. Ich lief umher wie die anderen, die Schaulustigen, sah aus wie sie. Vor dem Sonnenblumenhaus hatten sich in jener Nacht auch hartgesottene Neonazis und Skinheads versammelt, teils von weither aus dem Westen angereist. Aber die meisten waren Jugendliche aus Rostock. Sie kamen aus Langeweile, aus Frust, aus Selbstdarstellungstrieb, aus Lust auf den Krawall. Und weil sie ihre Wut an Ausländern ausließen, klatschten Tausende von Anwohnern ihnen dafür Beifall. Die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen wären nicht als die schlimmsten ausländerfeindlichen Ausschreitungen der deutschen Nachkriegsgeschichte in die Bücher eingegangen, wenn sich nicht die Polizei, plötzlich und unerklärlich, kurz nach 21 Uhr, zurückgezogen hätte. Die Jugendlichen, besoffen von Bier, Schnaps, Beifall und der Aufmerksamkeit der Kameras, rannten brüllend auf das Wohnheim zu. „Wir kriegen Euch alle“, grölten sie, warfen Steine und Molotow-Cocktails auf das Gebäude und kletterten dann auf die Balkons. Heute gibt es keinen freien Platz mehr vor dem Sonnenblumenhaus; heute steht dort eine einstöckige Ladenzeile mit Teppichverkauf und Handygeschäft. Damals aber konnte ich den Sturm auf das Wohnheim von der Straße aus genau beobachten. Eine noch bessere Sicht gab es nur vom Dach der Kaufhalle, die quer zum Sonnenblumenhaus stand. Dort hatten sich die Fernsehteams aufgebaut. Ganz Deutschland konnte an jenem Montagabend live zuschauen, wie Flammen aus den Fenstern des Wohnheims schlugen.

Die absurdeste Szene des Medienspektakels spielte sich hinter der Kaufhalle ab, wo sich damals ein geschlossener Hof befand. Dort hatten die Übertragungswagen geparkt. Um die Sicherheit des teuren Equipments zu gewährleisten, hatten die Fernsehleute eine private Wachfirma angeheuert, die am Tor den Zugang kontrollierte. An dieser Stelle, keine hundert Meter vom demolierten Wohnheim entfernt, klappte es mit der Sicherheit anstandslos.

Um 21.38 Uhr verzeichnete die Feuerwehr den ersten Notruf. Ein Feuerwehrwagen versuchte, zur Rückseite des Neubaublocks durchzukommen, wurde jedoch von einer johlenden, mit Steinen und Baseball-Schlägern bewaffneten Menge gestoppt. Erst um 22.56 Uhr konnten die Löscharbeiten beginnen. Da endlich war die Polizei aus ihrer Starre erwacht und hatte der Feuerwehr einen Weg zum Sonnenblumenhaus gebahnt.

Die Polizei greift endlich ein

Der Parkplatz gegenüber vom Sonnenblumenhaus existiert noch, er könnte allerdings mal eine neue Schicht Asphalt gebrauchen. Hier stand ich, als die Polizei um drei Uhr früh anrückte, um das Gelände rings um das Gebäude zu räumen. In eng geschlossener Formation marschierten die Polizisten über den Bahndamm und schlugen dabei mit ihren Schlagstöcken auf die Schilder. Ein unheimlicher, archaischer Lärm war das. Wir flohen. Wir – die Meute, deren Teil ich geworden war. Wir rannten über den Parkplatz bis in das Gebüsch dahinter. Die Polizisten ließen ihre Hunde von der Leine, um das Wäldchen zu räumen.

Heute stehen die Büsche viel dichter. Heute wäre es mir nicht gelungen, weit genug davonzulaufen vor den Hunden. 370 vorläufige Festnahmen, das war die Polizei-Bilanz der tagelangen Ausschreitungen. Doch nur vier Brandstifter wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die letzten Urteile fielen erst zehn Jahre nach der Brandnacht, so spät, dass die Täter schon wegen der langen Verfahrensdauer Milde fanden. Rostock-Lichtenhagen, das war nicht nur ein ungeheuerliches Polizeiversagen, das war auch ein Justizskandal. Im milden Licht des Augustes 2012 leuchten die Blüten am Sonnenblumenhaus, als wäre nichts geschehen. Ich gehe meinen Schritten von vor zwanzig Jahren nach und suche nach meinen Erinnerungen. Ich will mit meinen Gedanken alleine sein.