Länderbericht Armut in Deutschland: EU-Kommission wirft Bundesregierung schwere Versäumnisse vor

Berlin - Die Europäische Kommission hält der Bundesregierung schwere Versäumnisse bei der Bekämpfung der sozialen Not in Deutschland vor. Wörtlich schreibt die Brüsseler Behörde in ihrem aktuellen Länderbericht: „Im Zeitraum 2008 bis 2014 hat die deutsche Politik im hohem Maße zur Vergrößerung der Armut beigetragen.“
Dies sei darauf zurückzuführen, dass bedarfsabhängige Leistungen „real und im Verhältnis zur Einkommensentwicklung gesunken sind“. Damit sind zwei Fehlleistungen angesprochen, die sich die Bundesregierung nach dem Befund der Kommission vorwerfen lassen muss. Erstens erhöhte sie die Unterstützung etwa für Hartz IV-Bezieher, Wohngeld-Empfänger oder BaföG-Berechtigte nicht einmal in dem Maß, um für die Betroffenen die Kaufkraftverluste durch die Preissteigerung auszugleichen. Zweitens ignorierte sie den Wohlstandsanstieg in weiten Teilen der Bevölkerung, von dem die Menschen am unteren Ende der Einkommensskala abgekoppelt wurden.
Urteil des Länderberichts kommt in öffentlicher Debatte kaum vor
Den Länderbericht veröffentlichte die EU-Kommission im Februar. In der öffentlichen Debatte blieb das vernichtende Urteil für die deutsche Sozialpolitik bislang weitgehend unberücksichtigt. Aus Sicht von Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, darf die deutsche Politik die Kritik der internationalen Organisationen nicht länger ignorieren.
„Mittlerweile prangern sowohl OECD und Internationaler Währungsfonds als auch EU-Kommission und Europäische Zentralbank die eklatante Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland an“, sagte Schneider dieser Zeitung. „Es stellt sich die Frage, wer Deutschland noch alles ermahnen muss, bevor eine Bundesregierung ihre verteilungspolitische Vogel-Strauß-Politik aufgibt.“ Schneider forderte einen finanzpolitischen Kurswechsel, der Steuererhöhungen für die Spitzeneinkommen- und vermögen beinhalten müsse.
EU erkennt positive Entwicklungen an
Das Ausmaß der Armut in der Bundesrepublik ist immer wieder Thema für heftige Auseinandersetzungen. Auch die Bundesregierung selbst ringt darum, wie scharf sie in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht die sozialen Gegensätze beschreiben soll. Die Kommission erkennt in ihrer Bewertung durchaus positive Entwicklungen im größten Mitgliedsland an.
So hält sie an einer Stelle in dem gut 80 Seiten umfassenden Bericht fest, dass es Deutschland gelungen sei, mehr Männer und Frauen in Beschäftigung zu bringen und die Zahl der jungen Leute mit frühem Schulabgang zu reduzieren. In diesem Absatz ist sogar die Rede davon, dass die Armut gesunken sei.
Im Kern bleibt es eine alamierende Botschaft
Eine Erklärung für den Widerspruch zu den anderen, ausgesprochen kritischen Aussagen könnte darin liegen, dass unterschiedliche deutsche Ministerien und Lobbygruppen auf die Kommission einwirken, wenn sie solche Analysen erstellt. Im Kern sendet Brüssel aber eine alarmierende Botschaft nach Berlin. Demnach profitieren zu wenige Menschen von dem ungewöhnlich starken Aufschwung.
„Die insgesamt günstige Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung der letzten Jahre ist nicht in allen Teilen der Gesellschaft gleichermaßen angekommen“, betonten die Kommissions-Experten. Die Einkommensunterschiede hätten sich „eine geraume Zeit lang“ ausgeweitet und schwächten sich erst seit Kurzem wieder ab.
Selbst der positive Trend am Arbeitsmarkt habe das Armutsrisiko nicht verringert. Die Verantwortung dafür sieht Brüssel bei der Politik in Berlin. Die Umverteilungsmaßnahmen hätten erheblich an Wirksamkeit eingebüßt. Skeptisch beurteilt die Behörde auch die Aussichten für die alten Menschen. „Auch die Angemessenheit der Renten wird voraussichtlich weiter abnehmen.“
Ursachen für wachsende Spaltung reichen weit zurück
Für die wachsende Spaltung der Gesellschaft macht die Kommission nicht allein die seit 2005 regierende Dauerkanzlerin Angela Merkel (CDU) verantwortlich. Einige Ursache reichen nach ihrer Analyse weiter zurück. Als Beispiele nennt die Behörde die Abschaffung der Vermögensteuer im Jahr 1997 und die Absenkung des Spitzentarifs in der Einkommensteuer von 53 Prozent auf 42 Prozent im Jahr 2004.
Auch die Abgeltungsteuer, mit der Kapitaleinkünfte seit 2009 pauschal mit 25 Prozent besteuert werden, führt die Kommission auf. Diese fällt allerdings in die Amtszeit Merkels. Schließlich weist der Bericht auf die Anhebungen der Sozialabgaben seit Anfang der 1990er Jahre hin. All das habe dazu beigetragen, „den progressiven Charakter des Steuersystems zu verringern, und die Einkommensunterschiede möglicherweise zu erhöhen“.