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Archiv: Interview mit Hans-Dietrich Genscher Archiv: Interview mit Hans-Dietrich Genscher: Ein Volk stellt sein Leben auf den Kopf

24.09.2010, 15:53
Hans-Dietrich Genscher auf dem Marktplatz in Halle (2010)
Hans-Dietrich Genscher auf dem Marktplatz in Halle (2010) Andreas Stedtler

Halle (Saale) - Am 3. Oktober 2010 ist Deutschland 20 Jahre wiedervereint. Hans-Dietrich Genscher gilt als einer der Architekten der deutschen Einheit. Erzieht im Gespräch Bilanz und richtet den Blick der Deutschen vor allem in die Zukunft. Mit dem früheren Bundesaußenminister sprachen in Halle die MZ-Redakteure Hartmut Augustin und Hans-Ulrich Köhler.

Dieser Tage ist Ihre Orden-Sammlung wieder mal gewachsen, der Verdienstorden Sachsen-Anhalts ist hinzugekommen. Wissen Sie zu Hause in Bonn überhaupt noch, wohin mit all den Ehrungen?

Genscher: Noch ist Platz. In meinem Arbeitszimmer gibt es einen großen Schrank, da liegen die ganzen Orden. Sie werden von meiner Frau verwaltet. Sie hat alle Orden nummeriert. Das hilft mir, den Überblick zu behalten. Wenn ich in ein anderes Land fahre und der dortigen Regierung einen Besuch abstatte, dann gehört es sich bei bestimmten Anlässen, dass, wenn man von diesem Land einen Orden bekommen hat, diesen auch anlegt.

Wie viele haben Sie?

Genscher: Es sind über 70.

Nun können Sie sagen: Ich bin ein Sachsen-Anhalter . . .

Genscher: Auch das war ich schon immer, sogar als es noch die Bezirke Halle und Magdeburg gab. Aber wenn man mit dem Verdienstorden seines Heimatlandes ausgezeichnet wird, ist das etwas ganz Besonderes. Darüber habe ich mich von Herzen gefreut.

Sachsen-Anhalter sind Sie schon immer, also Ossi von Geburt. Als Wessi haben Sie sich so viele Sympathien erworben, wie kaum ein anderer Politiker, auch weil Sie den Kontakt zu Sachsen-Anhalt, zum Osten nie abreißen ließen. Sind sie über die Jahre zum Wossi geworden?

Genscher: Ich war es ja immer. Ich habe den größeren Teil meines Lebens im Westen verlebt, selbst wenn ich den Westen jetzt nur von 1952 bis 1989 sehe. Aber meine Wurzeln habe ich hier und in den ersten 25 Jahren bin ich hier geprägt worden.

Im Grunde hat meine ganze Jugend hier stattgefunden, nur unterbrochen von zwei Monaten Arbeitsdienst im Erzgebirge, sogar zu meiner Militärzeit war ich in Sachsen-Anhalt. Ich bin in Tangermünde am 7. Mai 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft gekommen. Ich habe in Leipzig studiert 1948 / 49, habe aber weiter in Halle gewohnt, schon deshalb, weil es bei der damaligen Verpflegungslage besser war, zu Hause zu wohnen.

Wo sind Sie zu Hause, wo ist Ihre Heimat?

Genscher: Meine Heimat ist hier in Halle, aber zu Hause bin ich in Bonn, dort, wo meine Familie und meine Frau sind, die als Kind aus Schlesien nach Sachsen kam. In Bonn sind inzwischen zwei Generationen meiner Familie geboren, auch meine Enkelkinder.

Wenn Sie Heimat und Zuhause vergleichen - wie haben sich beide in den letzten 20 Jahren verändert?

Genscher: In meiner Heimat sind es natürlich die grundlegenden Veränderungen im wirtschaftlichen Bereich. Aus einer Industrielandschaft, die führend war in Deutschland, ist hier in zwanzig Jahren eine vollkommen andere Struktur geworden . . .

. . . was aber auch mit den unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Startbedingungen nach dem Krieg zu tun hat . . .

Genscher: Keine Frage, das war prägend. Wenn man hier die gleichen Möglichkeiten gehabt hätte wie im Westen, würde die Struktur heute eine andere sein. Man kann diese 40 Jahre ja nicht über Nacht ungeschehen machen. Die Menschen hier können stolz sein, was sie in den letzten zwanzig Jahren geschafft haben. Da muss ich nur in Halle durch die Straßen fahren. Vieles hier hat sich wunderbar verändert, manches braucht freilich immer noch Zeit und Geld. Bonn war, als ich dort hinkam, Bundeshauptstadt, heute ist es Bundesstadt. Ein großer Teil an Ministerien ist noch in Bonn. Es ist ja nicht so, als wäre dort der Notstand ausgebrochen, denn in Bonn sind drei DAX-Unternehmen ansässig, die Post und die Telekom und die Postbank. Ich habe damals leidenschaftlich für Berlin gesprochen und gestimmt.

Was ist dem Geburtstagskind Deutschland in den vergangenen 20 Jahren besonders gelungen, wo hatte es weniger Glück?

Genscher: Ich denke, dass die Vereinigung von Ost und West, diese dramatische Umstellung der Lebensverhältnisse im Osten, gut gelungen ist. Die äußeren Bedingungen sind optimal geregelt. Bei der inneren Entwicklung muss man einfach sehen, dass man nicht über Nacht eine Politik rückgängig machen kann, die hier stattgefunden hat. Man muss sich vorstellen, dieses Land wird plötzlich geteilt, aber die Menschen in diesem Land sind ja nicht unterschiedlich. Die Menschen im Westen waren nicht fleißiger, kreativer oder intelligenter als in meiner Heimat, aber das Arbeitsergebnis war anders. Der Niedergang der DDR lag nicht an den Menschen, sondern am falschen System. So gesehen war der 13. August 1961 das Eingeständnis der Machthaber, dass sie im Wettbewerb der Systeme verloren haben. Sie haben nicht wie Bert Brecht gesagt, das Volk versteht uns nicht mehr, lasst uns ein anderes Volk wählen, sondern sie haben gesagt, das Volk versteht uns nicht mehr, lasst es uns einmauern.

Muss man nach zwanzig Jahren langsam ungeduldig in Sachen innere Einheit werden?

Genscher: Nein. Die Annäherung von Ost und West ist ein sehr langer Prozess, da sind wir noch unterwegs, keiner weiß wie lange. Nehmen sie nur als Beispiel die Wissenschaft. Ich würde mir künftig wünschen, dass die Wissenschaftslandschaft hier viel stärker gefördert wird. Wenn heute die so genannten Elite-Universitäten mehr in Baden-Württemberg und Bayern sind, dann nicht deshalb, weil die Menschen dort intelligenter sind, sondern deshalb, weil diese Länder mehr Geld haben, um Forschungsförderung zu betreiben. Ich würde mir wünschen, dass angesichts der geringeren Finanzkraft der neuen Bundesländer eine solche direkte Förderung möglich ist.

Würden Sie heute noch auf Anhieb erkennen, ob jemand aus dem Osten oder aus dem Westen kommt?

Genscher: Nein, das war mir auch nie wichtig. Ich hatte vor einigen Jahren eine Professur an der "Viadrina" in Frankfurt / Oder. Ein Drittel der Studenten war aus den alten und ein Drittel aus den neuen Bundesländern, ein Drittel kam aus Polen. An den Fragen, am Auftreten konnte ich nicht unterscheiden, woher die Studenten kamen, nur an den Dialekten. Die Jugend hat begriffen, dass die Vergangenheit jahrzehntelang eine getrennte war, aber die Zukunft ist eine gemeinsame. Und die Erwartungen und Sorgen verbinden die Jugend. Da ist die innere Vereinigung sehr viel weiter, als manche ergrauten Betrachter es wahrhaben wollen.

Wenn Sie heute hier mit Menschen sprechen, treffen Sie da auf andere Landsleute als vor 20 Jahren?

Genscher: Ganz sicher. Was mich dabei immer beeindruckt, ist die unglaubliche Bereitschaft zur Veränderung, die sehe ich heute genauso wie vor 20 Jahren. Hier haben die Menschen freiwillig ihr Leben auf den Kopf gestellt, das muss man sich mal überlegen! Im Grunde wurde die Demokratie in Deutschland im Jahre 1933 beendet. Das hielt im Osten an bis 1989. Und dann, praktisch über Nacht, sollte man sich in einer völlig neuen politischen und wirtschaftlichen Ordnung zurechtfinden. Das verlangte einen solchen starken Willen zur Veränderung, wie ihn Deutsche wohl noch nie in ihrer Geschichte aufbringen mussten, ein unglaublicher Vorgang.

Ich wünschte mir damals im Westen oft, dass sich aus dem Besitzstandsdenken, das in Westdeutschland so dominiert, eine solche Veränderungsbereitschaft entwickelt, wie sie die Menschen in meiner Heimat hatten und haben.

Im März 1990 sagten Sie in einem Interview für die MZ, dass der Weg zur inneren Einheit viel länger dauern kann, als wir uns das jetzt vorstellen könnten. 20 Jahre sind lang. Wo stehen wir jetzt?

Genscher: Das kann ich nicht genau orten. Ich habe damals nur vor Illusionen gewarnt. Ich habe gesagt, der Weg, der vor uns liegt, ist ein langer, ein steiniger Weg, es wird auch Stillstand geben, vielleicht sogar Rückgang, aber wir werden es schaffen. Und das kann ich heute genauso sagen. Denn gerade auf dem Gebiet der Wirtschaft sind wir schon sehr weit gekommen.

Ich wehre mich in diesem Zusammenhang auch gegen die Diskussionen, die immer wieder über den damaligen Finanztransfer geführt werden. 1990 begann in der Europäischen Gemeinschaft eine Rezession . . .

. . . in der die damalige Bundesregierung stolz sagte, sei davon nicht betroffen . . .

Genscher: Was ja auch stimmt. Aber warum? Weil die westdeutsche Wirtschaft plötzlich 16 Millionen neue Verbraucher - ohne wirkliche Wettbewerber - hinzu bekam. Das war eine Art Konjunkturprogramm. Hilfsprogramm für den Osten ja, aber genauso Konjunkturprogramm für den Westen.

Außerdem ist es so, dass, wenn ich die Worte arm und reich einmal verwenden darf, diese Freiheitsrevolution uns in einem ideellen Sinne reicher gemacht hat. Sie hat Vertrauen geschaffen in der Welt. Eine Freiheitsrevolution - und die Deutschen sind dabei und das auch noch auf der richtigen Seite.

Sie haben kurz nach dem Mauerfall sehr oft mit Menschen hier gesprochen. Da war noch unklar, wie der Weg zur Einheit eigentlich beschritten werden kann. Was haben Sie den Menschen hier gesagt?

Genscher: Ich habe in Halle im Dezember 1989 in der Marktkirche eine Rede gehalten, in der ich die Lage so beschrieben habe: Sie hier im Osten haben eine Entscheidung getroffen. Der Westen hat ein Grundgesetz mit dem Angebot der Vereinigung - Sie werden jetzt die erste freie Wahl haben. Dann werden Sie entscheiden, ob Sie die Chance der Wiedervereinigung nutzen wollen. Und wir im Westen, sagte ich damals, werden, was immer Sie entscheiden, akzeptieren. So kam es ja dann auch.

Das Volk im Osten hat sein Schicksal mit seiner Wahlentscheidung im März 1990 zum zweiten Mal in die eigenen Hände genommen, so schnell, wie das ein Jahr zuvor niemand für möglich gehalten hätte.

Kam die deutsche Einheit zu schnell?

Genscher: Nein, im Grunde kam sie schon fast zu spät. Sie kam nicht zu schnell, und zwar aus zwei Gründen nicht. Wir wissen ja heute, dass der SED-Führung genaue Analysen darüber vorlagen, dass die DDR finanziell und wirtschaftlich am Ende war. Das hätte zu einer sozialen Katastrophe geführt, denn man hatte ja Raubbau mit der Substanz betrieben.

Die Bundesregierung wollte, dass der Beitritt erst erfolgt, wenn der 2-plus-4-Vertrag unterzeichnet ist. Damit gaben die Siegermächte grünes Licht für die deutsche Vereinigung und für die volle Souveränität des vereinten Landes.

Sie sprechen vom Beitritt. Nun gibt es ostdeutsche Ministerpräsidenten, die sprechen vom Anschluss. Haben Sie Verständnis dafür?

Genscher: Das kann ich nicht verstehen. Was soll das? Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland war die freie Entscheidung eines frei gewählten Parlamentes. Wer etwas anderes sagt, würdigt dieses herab. Es war eine Entscheidung der Volkskammer. Übrigens bedeutete der Beitritt ja auch Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft. Das zeigt die gelungene europäische Einbettung der deutschen Vereinigung.

Außer Ampelmännchen, Rotkäppchen Sekt und den Halloren-Kugeln hat nicht allzu viel überlebt aus der DDR. Gleichwohl gibt es heute Diskussionen über Kita-Programme, längeres gemeinsames Lernen, Nachwuchs-Sportförderung und andere Sachen, wo die DDR spezifische Erfahrungen hatte. War doch nicht alles schlecht?

Genscher: Ich bin für alles offen. Wenn sich in der Praxis etwas als besser erweist, ist es egal, woher der Impuls dazu kommt. Vernünftigerweise sollte jeder, der in Politik oder Wirtschaft Verantwortung trägt, so an die Dinge herangehen. Gut ist, was den Menschen im wiedervereinten Deutschland dient.

Sachsen-Anhalt trägt immer wieder die rote Laterne, bei den Arbeitslosenzahlen, beim Lohnniveau, beim Eigentum, der Ausstattung mit schnellem Internet. Zehrt die Wirtschaftsentwicklung nicht am Selbstbewusstsein Ihrer Landsleute?

Genscher: Den Eindruck habe ich nicht, zumal die eine oder andere rote Laterne ja auch schon an andere weitergegeben wurde. Ich kann es mir auch nicht vorstellen, dass meine Landsleute so wenig Selbstbewusstsein haben. Ich habe in Wahlveranstaltungen hier oft gesagt: Wenn einer aus Halle Außenminister in Bonn werden kann, dann kann es so schlecht nicht stehen um das Selbstbewusstsein . . .

Aber natürlich, es schmerzt mich ganz besonders, wenn das Land noch zu wenig Spitzenplätze belegt. Denn vor dem Zweiten Weltkrieg war die Region hier führend. Warum ist das so? Fairerweise muss man sagen, dass der Neubeginn natürlich auch von den Leuten abhing, die ihn gemacht haben. Es gab in Sachsen-Anhalt einen sehr häufigen Wechsel des Regierungschefs in den ersten Jahren. Sachsen hatte einen Kurt Biedenkopf, Thüringen hatte Bernhard Vogel. Das hat sich ausgewirkt. Rein strukturell hätte Sachsen-Anhalt durchaus eine ähnliche Entwicklung haben können wie die Nachbarn. Das hat nichts mit den Menschen hier zu tun.

Was sollte man tun, damit Sachsen-Anhalt künftig noch besser vom Fleck kommt?

Genscher: Ich will hoffen, dass alle Parteien den Wahlkampf der vor uns liegenden Landtagswahlen nutzen, nicht um sich gegenseitig zu zerfleischen, sondern dass sie den Menschen hier Zukunftsvorschläge anbieten. Darauf haben die Wähler Anspruch. Über alle Themen ist der offene Diskurs notwendig. Deshalb hoffe ich, dass hier ein Landtagswahlkampf der Zukunftsentwürfe stattfindet. Das wäre ein unglaublicher Beitrag zu noch stärkerer Verwurzelung der Demokratie im Land.

Wie bewerten Sie denn die gegenwärtige rot-schwarze Koalition?

Genscher: Überlassen wir das Urteil den Wählern.

Sie könnten doch sagen, es ist alles hervorragend hier . . .

Genscher: . . . das würde mir nun auch wieder zu weit gehen - um es zurückhaltend auszudrücken.

Die Ostdeutschen haben in den vergangenen Jahren ihre Freiheit genossen, mancher sieht sie aber auch als individuelle Bedrohung, wenn er keine Chance hat, sie auszuschöpfen. Ist Freiheit bedrohlich?

Genscher: Freiheit ist Selbstverwirklichung, nach der man sich sehnt, aber jeder muss sich auch bewusst sein, dass Freiheit auch Herausforderung ist. Dazu gehört die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und unter Umständen auch Risiken einzugehen.

Damit wird man im Wahlkampf Arbeitslose oder HartzIV-Empfänger wenig begeistern können . . .

Genscher: Ich meine schon, dass man auch mit ihnen darüber sprechen muss, welche Möglichkeiten eine solche Gesellschaft doch noch bieten kann. Insofern kann man nicht sagen, ich mache ein Wahlkampfprogramm für die, die noch auf dem Spielfeld sind. Und die, die im Moment auf der Reservebank sitzen, für die interessiere ich mich nicht. Das kann nicht sein. Und das meine ich auch mit einem Zukunftsentwurf.

Menschen mitzunehmen ist eine ganz wichtige Aufgabe der politischen Führung in einer Demokratie. Nicht nur Gedanken haben, sondern sie auch verständlich zu machen und Herz und Hirn der Menschen dafür zu gewinnen.

Jungen Menschen fällt der Blick in die Zukunft leichter. Nun stellen wir aber gerade in Sachsen-Anhalt fest, dass sich eine gewisse Armut verfestigt. Die Eltern sind nach der Wende arbeitslos geworden und die nächste Generation, die Kinder unter 30, ist es auch wieder. Sie geben also an ihre Kinder ein bestimmtes Lebensgefühl weiter.

Genscher: Deshalb ist es ja so wichtig, dass wir uns als Gesellschaft um diese Kinder sehr früh kümmern, weil verständlicherweise Enttäuschungen der Eltern dazu führen, dass sie jenen Ansporn nicht vermitteln können, der eigentlich vermittelt werden sollte. Ganz sicher wird das ein erfolgreiches Elternpaar leichter tun, als ein Elternpaar, das nicht auf der Sonnenseite des Lebens steht. Auch diese muss man abholen, das ist eine indirekte Operation, um Einwirkung auf die Kinder zu haben.

Mitunter verklärt sich im Osten der Blick zurück. Ist das bedenklich oder gehört das einfach zum Leben?

Genscher: Natürlich, die Nachteile, das Unerfreuliche vergisst der Mensch im Leben eher. Das macht der liebe Gott, damit wir nicht so zynisch werden. Als ich meine Erinnerungen geschrieben habe, da habe ich dann gespürt, dass ich nach Jahren vieles in einem milderen Licht sehe.

Ich habe als Außenminister viele Gespräche geführt und die wurden aufgeschrieben. Dann habe ich Gespräche für mein Buch nachgelesen und mich über viele Dinge geärgert. Als ich die Dinge erlebt hatte, war für mich keine Zeit zum Ärgern. Ich fürchte, ich hole das jetzt manchmal nach. Man sieht mit Abstand manches weicher, so ist der Mensch nun mal. Da steckt aber auch eine Gefahr drin.

Als Deutschland eins wurde, gab es in der Welt Ängste vor einem starken Deutschland. Waren die Ängste berechtigt und welchen Platz hat Deutschland heute in der Welt?

Genscher: Es gab zwei Elemente. Auf der einen Seite, dass die Bundesrepublik großes Vertrauen erworben hatte, zunächst im Westen. Aber die Entspannungspolitik und die KSZE-Politik und mit dem Beitrag der Deutschen durch die Freiheitsrevolution, das hat einen Bonus gebracht, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Deshalb war die Besorgnis nicht so groß, wie manche vermuten und wir haben ja auch alle Erwartungen bestätigt. Von Frieden und Demokratie ist noch nie eine Gefahr für andere ausgegangen.

Heute nun ringt Deutschland - bislang erfolglos - um einen ständigen Sitz im Uno-Weltsicherheitsrat. Will die Welt uns dort immer noch nicht haben?

Genscher: Ich muss ganz offen sagen, dass ich von der Idee eines ständigen Sitzes für Deutschland nichts halte. Wir haben heute einen Weltsicherheitsrat, der spiegelt die Machtverhältnisse am Ende des Zweiten Weltkrieges wider. Das sind die Siegermächte, also die Sowjetunion, England, Frankreich, die USA und China. Diese fünf Gründungsmitglieder des Weltsicherheitsrates sind geborene Mitglieder, das wird auch in Zukunft so bleiben.

Aber wenn der Sicherheitsrat jetzt erweitert wird, dann müssen wir die neue Weltordnung reflektieren nach dem Ende des Kalten Krieges. Da gehört Indien dazu, da gehört Brasilien dazu. Und er muss Afrika und Asien vertreten. Die EU sollte dort einen eigenen Sitz haben. Sie vertritt über 500 Millionen Menschen, ist der größte Binnenmarkt der Welt, die - noch - stärkste Wirtschaftskraft der Welt. Wenn wir es ernst meinen mit der europäischen Vereinigung, dann brauchen wir einen Sitz der Europäischen Union - unter Beibehaltung der beiden Sitze Frankreichs und Großbritanniens.

Halten Sie das Engagement Deutschlands für Afghanistan für richtig?

Genscher: Das Engagement ist zustande gekommen in einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten eine Regierung hatten, die irrtümlich davon ausging, dass die Bipolarität der alten Ordnung, also bipolar heißt Washington, Moskau, abgelöst worden ist durch eine unipolare, auf Washington konzentrierte Weltordnung. Das war eine gefährliche Illusion. Die Vorstellung, Probleme mit militärischer Macht zu lösen, ist von gestern. Sie wird ja selbst in Amerika nicht mehr gehegt. Im Grunde ist ja Obama gewählt worden, damit er das amerikanische Engagement dort beendet.

Aber wäre denn die Nato darauf vorbereitet?

Genscher: Der Nato fehlt auch in diesem Zusammenhang eine politische Strategie. Was wir mit der deutschen Entspannungspolitik möglich gemacht haben, war die Ausformung einer Strategie, die die Nato 1967 entwickelt hatte. Da wurde gesagt, wir wollen eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einschluss der deutschen Vereinigung. Dafür brauchen wir ausreichende militärische Stärke für unsere Sicherheit und wir brauchen Dialog und Zusammenarbeit mit der anderen Seite.

Das Bemühen von Präsident Obama, diesen Einsatz in Afghanistan zu Ende zu bringen, ist richtig. Das bedeutet für uns Deutsche das Gleiche. Ich würde mir wünschen, dass Europas Regierungen den neuen US-Präsidenten stärker unterstützen würden. Er hat eine schwere Erbschaft übernommen.

Was wünschen Sie Deutschland zum 40. Geburtstag?

Genscher: Ich würde mir wünschen, dass - wie das Beispiel Kalter Krieg gezeigt hat - man aus der Geschichte gelernt hat, dass Deutschland Teil einer Weltordnung ist, die überall als gerecht empfunden werden wird. So werden wir globale Stabilität bekommen. Das war in Europa der einzige Weg, das ist global der einzige Weg.

Wie sieht Ihre Geburtstagsfeier am 3. Oktober aus?

Genscher: Ich werde zunächst am Morgen in Bremen an einer Veranstaltung teilnehmen. Abends bin ich dann noch zu einer Veranstaltung im Reichstag eingeladen.

Stoßen Sie an diesem Tag auch mal an auf diese 20 Jahre?

Genscher: Ja!

Wenn Sie dann einen Trinkspruch in einen Satz fassen müssten . . .

Genscher: . . . würde ich sagen: Es hat sich gelohnt, nichts war umsonst!