Anis Amri Anis Amri: Warum war der mutmaßliche Attentäter in Deutschland auf freiem Fuß?
Berlin - Je mehr man über den mittlerweile dringend Tatverdächtigen Anis Amri weiß, desto mehr rückt eine schlichte Frage in den Mittelpunkt: Warum? Warum hat der seit Jahren schwer kriminelle Tunesier am Montagabend auf dem Berliner Breitscheidplatz möglicherweise jenes verheerende Attentat begehen können, das zwölf Menschen mit dem Leben bezahlten?
Der 24-Jährige stammt aus der Provinz Kairouan, einer Salafisten-Hochburg. 2011 gelangte er als Flüchtling nach Italien, wurde in einem Auffanglager auf Sizilien untergebracht und später wegen „diverser Straftaten“ in Palermo vier Jahre lang ins Gefängnis gesteckt. Im Frühjahr 2015 kam Amri frei, konnte wegen Problemen mit den tunesischen Behörden aber nicht ausgewiesen werden und so über Freiburg nach Deutschland einreisen.
In Asylbewerberunterkunft in Emmerich gemeldet
Gemeldet war der Mann in einer Asylbewerberunterkunft im rheinischen Emmerich. Seit Februar hielt er sich vor allem in Berlin auf. Dort wurde Amri nach Hinweisen von Bundesbehörden überwacht, und zwar von März bis September. Es habe Informationen gegeben, dass der als islamistischer Gefährder geführte Verdächtige einen Einbruch plane, um Geld für den Kauf automatischer Waffen zu beschaffen - „möglicherweise, um damit später mit noch zu gewinnenden Mittätern einen Anschlag zu begehen“, hieß es. Überdies bot er sich neuesten Informationen zufolge verklausuliert als Selbstmordattentäter an und hinterließ Fingerabdrücke in jenem Lkw, mit dem er offenbar mehrere Dutzend Menschen niederwalzte.
Umso dringlicher stellt sich die Frage: Warum?
CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach macht als erste Schwachstelle die Einreise aus, sprich die Flüchtlingspolitik. „Es darf keine Einreise von Menschen geben ohne geklärte Identität, ohne geklärte Nationalität und ohne Pass. Das ist geltendes Recht. Die Frage ist: Wie konnte es dann trotzdem geschehen?“
Dublin außer Kraft gesetzt
Überdies sei der Verdächtigte aus Italien über Österreich oder die Schweiz zu uns gekommen sei – aus bzw. über sichere Drittstaaten also. Tatsächlich sieht das Dublin-Abkommen, auf das sich der CDU-Politiker bezieht, vor, dass Flüchtlinge in dem Land Asyl beantragen müssen, in dem sie erstmalig das Territorium der Europäischen Union betreten. Es war aber im Sommer 2015 wegen der Masse der Flüchtlinge ausgesetzt worden. Die EU möchte es ab März wieder in Kraft setzen.
Die zweite Schwachstelle ist die Überwachung der Gefährder, von denen es 549 gibt und von denen der Flüchtige einer war. Warum seine Überwachung im September endete, ist nicht gewiss. Aus der Berliner Justiz verlautet allerdings, sie sei sogar länger praktiziert worden als geplant, habe nur keine Hinweise auf ein staatsschutzrelevantes Delikt erbracht. Im November war Amri trotzdem noch mal Gesprächsgegenstand im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum in Berlin-Treptow.
„Die Praxis ist wie Kraut und Rüben“
Klar ist, dass es bei der Überwachung von Gefährdern rechtliche und praktische Hindernisse gibt. Sie müsse durch eine Gefahr begründet sowie zeitlich befristet sein, verlautet aus Sicherheitskreisen. Hinzu kommen unterschiedliche Gesetze im Bund sowie in den 16 Ländern. „Die Praxis ist wie Kraut und Rüben“, sagt ein langjähriger Praktiker. „Man kann da niemandem einen Vorwurf machen.“
Klar ist ebenso: Selbst wenn Nachrichtendienste und Polizei rechtlich schalten und walten könnten, wie sie wollten, bliebe das Problem des fehlenden Personals, das nötig ist, um einen Gefährder rund um die Uhr zu beschatten und seine Kommunikation auf meist verschiedenen digitalen Kanälen zu beobachten. Der Terrorismusexperte Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik übt daher Kritik. „Die Rechtslage, die Kosten und die teils veraltete Technik geben es nicht her, einen Gefährder lückenlos unter Kontrolle zu halten“, sagte er dieser Zeitung.„Das halte ich für inakzeptabel. Man muss dafür sorgen, dass die Gefährder lückenlos überwacht werden können. Wenn das rechtlich nicht möglich ist, dann muss man das Recht ändern.“ Steinberg fuhr fort: „Es gibt aber auch ganz praktische Verfahren, die jetzt schon möglich sind: Warum sollte sich ein Gefährder nicht ein- oder auch dreimal am Tag bei der Polizei melden sollen?“
Ein Albtraum, der wahr wird
Die dritte Schwachstelle im Fall Amri ist die Abschiebung. Der Asylantrag des Tunesiers war abgelehnt worden. Er sollte abgeschoben werden. Doch Tunesien bestritt, dass der Kriminelle sein Staatsbürger sei. Erst auf Druck stellte das tunesische Generalkonsulat Ausweispapiere für den Gesuchten just an dem Tag zur Verfügung, als er wegen des Attentats ins Visier geriet.
Zwar saß Amri in Abschiebehaft – musste aber nach einem Tag wieder entlassen werden. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat jedenfalls bereits einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der den Haftgrund der „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“ vorsieht. Dieser Haftgrund wäre für den vorliegenden Fall maßgeschneidert gewesen.
Dass Gefährder den Behörden bekannt waren und doch Anschläge verüben konnten, ist in den USA übrigens ebenso schon passiert wie in Belgien und Frankreich. Es ist ein Albtraum – ein Albtraum, der wahr wird.