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Analyse Analyse: Mehr Schein als Sein

02.12.2005, 18:20

Halle/MZ. - Wie realistisch ist Merkels Freiheits-Anspruch?

Die Kanzlerin droht mit ihrem Freiheitsbegriff alsbald im Gefängnis der "Sachentscheidungen" und der "Koalitionsdisziplin" zu landen. Spätestens in der fürs erste vertagten, aber unausweichlichen Diskussion über die Gesundheitsreform wird sich zeigen müssen, ob die Kanzlerin aus diesem Verlies entkommen kann.

Auf eine Befreiungsaktion durch die "Mitte der Gesellschaft" kann Merkel nach Lage der Dinge zur Zeit nicht hoffen. Noch fühlen sich viele Bürger im wohl temperierten Sozialstaat der Münteferings und Seehofers allemal besser aufgehoben als in Merkels zugigem Freiheitstempel, den sie als unbehaglich und einschüchternd empfinden. Bevor die Menschen "Freiheit wagen", wollen sie erst einmal vertrauen können.

Am Beginn einer schwarz-roten Regierung unter Merkels Führung ist ihr "Wagnis der Freiheit" mehr Utopie als Wirklichkeit, mehr Schein als Sein.

Passt Merkels Freiheitsanspruch zum Programm der Großen Koalition?

Die SPD-Abgeordneten haben die Vorlage der Kanzlerin nur zögerlich aufgenommen. Dabei sollte Merkels Reden vom Wagnis der Freiheit den neuen Koalitionspartner einfangen und mitnehmen: Merkel nahm Willy Brandts geflügeltes Wort "Mehr Demokratie wagen" auf und überbot es zugleich - in einer Form, der aufs erste Hören schwerlich zu widersprechen war. Sollte tatsächlich jemand gegen das Hohelied der Freiheit aufbegehren, vorgetragen von einer ehemaligen Bürgerin der DDR?

Merkel versteht ihre Passagen zur Freiheit durchaus als eine versteckte Kampfansage an die Sozialdemokraten - jene in der SPD wie jene in den eigenen Reihen. In dem Maße, in dem sie als Regierungschefin Statur gewinnen wird, will sie versuchen, das programmatische Skelett von Freiheit und Eigenverantwortung mit tagespolitischen Sehnen und Muskeln zu versehen.

Die Vokabel "Freiheit" versteht Merkel in ihrer Regierungserklärung als eine Art Kassiber, eine versteckte Botschaft an alle, die fürchten, ihr politischer Kompass könnte in den Koalitionsverhandlungen durch ein sozialdemokratisches Magnetfeld in Verwirrung geraten sein. Die SPD-Linke Andrea Nahles hat das sofort erkannt und zu Protokoll gegeben, dass der Tenor der Regierungserklärung nicht mit der Koalitionsvereinbarung übereinstimme.

Das ist genau der Punkt: Merkel referierte getreulich die vereinbarten Einzelmaßnahmen. Aber sie versuchte, einen anderen Geist zu beschwören. Das birgt Probleme. So findet sich der große freiheitliche Aplomb in den vielen kleinen Schritten des Koalitionsvertrags bei weitem nicht wieder. Dass eine höhere Mehrwertsteuer die (materiellen) Freiräume der Bürger vergrößerte, wird niemand behaupten wollen. Ebenso wenig, dass eine "Väterklausel" bei der Zumessung des geplanten Elterngeldes Freiheit von staatlicher Lenkung bedeutete. Oder dass Investitionsprogramme ordnungs- und wirtschaftspolitisch den Geist der Freiheit atmeten.

Auch die erste tagespolitische Entscheidung der neuen Regierung, nämlich der Stopp eines Umzugs der Bahn-Zentrale von Berlin nach Hamburg, zeugt von allem anderen als von Freiheitswillen.

Was meint Angela Merkel, wenn sie von Freiheit spricht?

Wenn Angela Merkel Geburtstag feiert, lässt sie einen Hirnforscher darüber referieren, ob der Mensch zu selbstbestimmtem Handeln fähig ist. Wenn die Kanzlerin den Erfolg ihrer "Großen Koalition der kleinen Schritte" beschwört, spricht sie von "vernetzten Computern" und der "Philosophie des Internets".

Angela Merkel denkt in Prozessen. Sachlogik bestimmt ihre Sicht auf die Gesellschaft und ihre Veränderungen auf die Politik: In unabweisbarer Folgerichtigkeit ergeben sich aus der Analyse eines Problems die Aufgaben und nach sorgfältiger Abwägung möglicher Instrumente auch die Lösungen. Das klingt so schön einfach, aber auch ein bisschen blutleer.

Den Begriff "Freiheit" versteht die neue Kanzlerin ganz ähnlich: als steuerbaren, operationalisierbaren Prozess, in dem der Mensch seine Ziele anstrebt - und bestenfalls erreicht. Der Staat kommt nur insofern ins Spiel, als er die Störungsfreiheit dieses Prozesses zu garantieren hat. Idealerweise indem er sich selbst so weit wie möglich heraus hält. Einen Anspruch auf die Solidarität der Gemeinschaft gesteht Merkel nur den "Kranken, Kindern und vielen Älteren" zu. Sie sind die einzige Gruppe, die Merkel in ihrer Regierungserklärung am vorigen Mittwoch ausdrücklich hervorhob. Merkel ist damit zwar alles andere als eine Sozialdarwinistin. Aber Schwachsein ist für sie ausschließlich biologisch bedingt. Über andere grundsätzliche Einschränkungen der persönlichen Freiheit - wie Benachteiligungen durch Herkunft, Bildungsstand oder wirtschaftliche Rahmenbedingungen - spricht sie nicht.

Darin steckt das Zutrauen in die Kraft jedes Einzelnen. Zugleich ist die Härte einer Frau zu spüren, die immer die Beste war, immer vorne - ein Alphatier. Angela Merkel fordert so viel, weil sie sich selbst viel abfordert. In ihren Begriff der Freiheit gehört zentral - wie sie einmal gesagt hat - die "Freude am Ausloten der eigenen Grenzen".

Woher kommt Merkels Freiheits-Begriff?

Merkels Freiheitsverständnis lässt sich aus der Erfahrung mangelnder Freiheit in der früheren DDR erklären. Dem Defizit an Freiheit entsprach bis 1989 eine Überdosis staatlicher Reglementierung. Die "eigenen Grenzen" waren eng gesteckt. Besonders bei Menschen mit weitem Radius. Weit vom offenen Widerstand gegen das SED-Regime entfernt, hat Merkel ihre Freiräume gewahrt. Auch wenn mancher es nicht für möglich halten sollte: Die heutige Kanzlerin war sogar einmal Hausbesetzerin in Ost-Berlin. Sie wollte die staatliche Bürokratie mit dem Einfallsreichtum des Individuums besiegen.

Der Wegfall der Mauer, die umfassende Ent-grenzung war deshalb für Angela Merkel in der Tat das Schlüsselerlebnis. "Die größte Überraschung meines Lebens ist die Freiheit", hat sie am Mittwoch formuliert. Freiheit ist das Freisein vom Staat, dessen Bevormundung den Einzelnen nicht zu sich selbst kommen lässt.

Aber bei aller persönlichen Emphase, die Merkel in den Rückblick auf die Wendezeit legt, bleibt ihr Freiheitsbegriff auf eigentümliche Weise kühl. Es ist nicht das Freiheits-Pathos der Französischen Revolution oder der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, das den Menschen zu Herzen ging und ein unsichtbares Band um sie schlang. Es ist auch nicht der umwerfend-einnehmende Charme der Freiheits-Predigt, wie sie das Neue Testament kennt. Den Ruf "Zur Freiheit hat euch Christus befreit" verbindet der Apostel Paulus mit der Botschaft, dass im Glauben alle Trennungen nach Rasse, Herkunft, Geschlecht und sozialem Stand aufgehoben seien. Merkels Ethos knüpft nicht so sehr an (christlichen) Glaubenssätzen, sondern an der Rationalität der Naturgesetze.

Es dürfte kein Zufall sein, dass sich die Christdemokratin Merkel - gefragt nach dem spezifisch Christlichen in der Programmatik der C-Parteien - nicht auf die lutherische "Freiheit eines Christenmenschen" bezieht, sondern lieber auf das Vertrauen. Die Kirchentagslosung "Vertrauen wagen" hing lange in der Küche ihrer Berliner Wohnung.

Heute fordert Merkel "Freiheit wagen". Genau die emotionale Wärme, die der Begriff "Vertrauen" ausstrahlt, fehlt ihr, wenn sie von "Freiheit" spricht. Dann durchzieht ihre Rede ein metallisch-gleißender Ton. Er ist gänzlich unvereinbar mit der Wohligkeit, die für viele Menschen in der Präsenz des Staates und seiner Fürsorge liegt.

"Sich auf den Staat zu verlassen, heißt, unter den eigenen Möglichkeiten zu bleiben", erklärt Merkel. Sie will nicht dulden, dass Menschen Gebrauch von ihrer Freiheit machen, indem sie Verantwortung abgeben und sich unter den Schirm eines größeren Ganzen - der Gesellschaft, des Staates - begeben. Das gibt Merkels Freiheitsbegriff etwas Unerbittliches.