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"Sind Sie etwa für Ausländer?" AfD mischt im Wahlkampf vor der Bundestagswahl ganze Städte auf

Von Kordula Doerfler 13.09.2017, 18:44
Ein Bus der AfD macht Halt in Frankfurt/Oder.
Ein Bus der AfD macht Halt in Frankfurt/Oder. AFP

Berlin - Ein Gespenst geht um in Deutschland. Es ist Frühherbst, es ist Wahlkampf, und es ist laut auf den Straßen und Marktplätzen. Trillerpfeifen, Buhrufe, Sprechchöre. Dass immer wieder Auftritte der Bundeskanzlerin gezielt gestört werden, im Osten wie im Westen, hat sie inzwischen schon selbst kommentiert. Sie drücke sich nicht vor den unbequemen Orten, sagt Angela Merkel  – auch als „Ermutigung derer, die sich gegen Hass stellen“.

Davon gibt es viele, auch in Ostdeutschland. In den Medien ist nur wenig von ihnen zu sehen, aber sie sind da, auch an diesem Dienstagabend in Jena. Laut ist es auch bei ihnen, wenn sie gegen Kundgebungen von AfD oder NPD auf die Straße gehen. Es geht dabei oft bunt und friedlich zu, aber auch hier ist mitunter Wut zu spüren.

Ausnahmezustand in Jena

Auch in Jena hat die AfD deshalb kein Heimspiel an diesem Dienstagabend. Spitzenkandidatin Alice Weidel wird erwartet, hier in Thüringen, wo die AfD besonders weit rechts steht, wo einer wie Björn Höcke Landeschef ist. Lange, bevor sich die AfD-Anhänger auf dem Holzmarkt versammeln, haben die Gegner mobil gemacht, an sechs Orten sind Kundgebungen angemeldet. Die Polizei hat die Innenstadt abgeriegelt, viele Läden haben vorsorglich schon mittags geschlossen. „So weit ist es gekommen“, sagt eine ältere Dame, schockiert über den Ausnahmezustand.

Am Ende sind viel mehr Menschen da, die ihren Unmut über die AfD zum Ausdruck bringen als solche, die „Merkel muss weg“ brüllen. Überraschend ist das nicht, die Universitätsstadt hat eine starke linke Szene, die Partei Die Linke ist die stärkste politische Kraft. Bekanntester Kopf jeglichen Protests gegen Rechts ist Lothar König, evangelischer Stadtjugendpfarrer und notorischer Unruhegeist. Der Protest beginnt mit einer Andacht vor der Stadtkirche, es ist von Anstand die Rede und davon, dass man sich mit auch mit denen auseinandersetzen muss, deren Meinung man nicht teilt. Das hören nicht alle gern. „Viele haben Wut“, mahnt König, „wir wollen aber heute den Protest mit Sinn und Verstand auf die Straße bringen.“

Vergleiche mit der SA

Es kommen viele junge Leute, viel Antifa ist zu sehen, aber auch ganz bürgerliche Bewohner von Jena, dazu Politiker wie Bernd Matschie von der SPD und der CDU-Bürgermeister. „Mir macht Angst, was die AfD in der Gesellschaft bewirkt und schon bewirkt hat“, sagt sie Katharina König, Tochter von Lothar König und für die Linke im Landtag. Tabus fallen, das Unsagbare ist wieder sagbar geworden. 

Auf der Bühne redet sich Stephan Brandner, als AfD-Spitzenkandidat in Thüringen wohl bald im Bundestag, in Rage, vergleicht die Gegendemonstranten mit der SA, beschimpft sie als Ergebnis von Inzucht und Sodomie. Nur ein kleines Häuflein von etwa 250 Menschen findet das gut, Ihnen stehen mehr als 1000 Demonstranten gegenüber. Brandner sieht in ihnen die Nazis – und in den „Altparteien“. Merkel, die „Führungsfuchtel im Kanzleramt“, will er wegen ihrer Verstöße gegen das Asylrecht ins Gefängnis bringen.

Ähnliche Bilder in ganz Deutschland

So klingt es von den Bühnen in ganz Deutschland, wo die AfD selbst ihre Wahlkampfauftritte organisiert. So klingt es aber auch aus den Zuschauermengen, wo Merkel auftritt.

Wie jüngst auf dem Marktplatz von Torgau in Sachsen, zwischen dem großen Renaissance-Rathaus und den schön renovierten Bürgerhäusern. Auf einer Bühne hält Merkel eine Wahlkampfrede. Die mit den Trillerpfeifen haben Ohrenstöpsel dabei. Wer nicht trillert, schreit. „Volksverräter!“ Oder: „Hau ab, hau ab.“ Plakate von AfD und NPD werden hochgehalten. Die AfD ist mit einem Bus angereist. Sie hat rote Zettel verteilt zum Wedeln: „Rote Karte für Merkel“.

„Wahlkampf als enttäuschendes Ablenkungsmanöver“

Der Psychologe Stephan Grünewald, Geschäftsführer des Medienforschungsinstituts rheingold, hat sich ausführlich mit dem Phänomen beschäftigt. Für ihn zeigt sich die Spitze eines Eisbergs: „Viele Wähler erleben den Wahlkampf als enttäuschendes Ablenkungsmanöver und bloße Schönfärberei“, sagt er. Nachdem sie im Schonraum der sozialen Netzwerke ihren Frust herauslassen, „wie eine Schreitherapie“, trauen sie sich raus. „Wir sehen ein Umkippen der Debattenkultur.“

Das liege auch  daran, dass die Streitkultur 20 Jahre lang nicht gepflegt worden sei. Merkel aber dem Wähler harte Debatten erspart: Atomausstieg, Wehrpflicht, Homo-Ehe – alles durchgewunken. „So haben die Leute das Gefühl, sie seien komplett unbeteiligt gewesen.“

In Torgau steht an einer Seite des Platzes eine Gruppe mit Männern um die 60. Sie machen eine kurze Trillerpause und schreien stattdessen: „Volksverräter, Volksverräter.“ Eine Frau dreht sich empört um: „Wissen Sie, was Sie da rufen?“ Den Begriff haben die Nazis als Diffamierung benutzt. „Ach, hören sie doch auf“, entgegnet der Angesprochene. Ein anderer Mann mischt sich ein. Er tippt der Frau mit der Spitze seines Regenschirms auf die Schulter: „Sind Sie etwa für Ausländer?“ Der Ton ist drohend.

Mit dem AfD-Bus zur Wahlveranstaltung

Der Krawall gegen Merkels Wahlwerbung soll wirken, als reagiere da spontan die Bevölkerung. Doch nicht nur die professionellen Protestschilder und Werbeflyer wirken anders. Die Störer kommen auch mit Mitfahrmöglichkeiten angereist, in letzter Zeit mit AfD-Bussen.

Wie „Zeit Online“ nun recherchiert hat, steckt dashinter eine dezentrale, aber straff organisierte Kampagne von AfD, NPD, rechtsradikalen Lokal-Bündnissen sowie Onlineplattformen und ultrarechten Vereinen aus dem Umfeld der Rechtsparteien.

Im August hatten demnach zwei kleine Störergruppen Gegendemonstrationen gegen einen Merkel-Auftritt im hessischen Gelnhausen angemeldet: örtliche Windkraftgegner und die AfD. Sie waren wenige, aber ihr Lärm und Auftreten brachte die Veranstaltung so aus der Spur, dass Zeitungen und TV-Sender berichteten. Die hessische AfD jubelte auf Facebook über die „umfangreiche mediale Berichterstattung über die Gegendemonstration“: „Nachahmung empfohlen!“

Mit Erfolg: „Zeit Online“ zeichnet nach, wie sich seither ein Netzwerk gebildet, das für kostenloses Anti-Merkel-Werbematerial sorgt, online mobilisiert – und seit September sogar im blau lackierten Wahlkampfbus der AfD der Kanzlerin nachreist. Spinnen im Netz: AfD und NPD.

AfD erreicht ihr Ziel

Ihr Ziel ist erreicht, wenn wie in Annaberg-Buchholz 150 Störer rund 1800 ruhige Zuhörer taub brüllen oder wie in Brandenburg/Havel 60 Krawallmacher 2000 Zuschauern das Hören unmöglich machen. Dann bestimmen sie anschließend das mediale Bild, wirken größer, als sie sind.
Andersherum ist das seltener so. Etwa ein paar Tage zuvor, im Südwesten der Republik. Das Spitzenduo der AfD, Alexander Gauland und Alice Weidel, kommt an diesem Abend nach Pforzheim zu seinem ersten gemeinsamen Wahlkampfauftritt.

1200 Anhänger warten in einem Saal des „Congresscentrums“, draußen haben sich mehrere hundert Demonstranten eingefunden, sie stehen hinter den Absperrungen der Polizei, halten Transparente hoch, blasen in Trillerpfeifen. Das Motto der Gegenveranstaltung lautet „Kein Platz für Rassisten“, auch hier hat ein breites Bündnis dazu aufgerufen; die Teilnehmer sind bürgerlicher als in Jena. Die Organisatoren sind am Ende ganz zufrieden, dass über 500 Leute gekommen sind, gewünscht hätten sie sich trotzdem, dass die Stadt Pforzheim ein stärkeres Zeichen setzt. Bei den Landtagswahlen im vergangenen Jahr wurde die AfD hier stärkste Kraft.

So reagiert die CDU

Die AfD hat die Provinz aufgemischt. Sie trommelt gegen Merkel, doch die Bürger lassen auch die Rechten nicht einfach gewähren. Psychologe und  Medienforscher Grünewald sieht deshalb ein „post-apathisches Zeitalter“: „Man will sich wieder beteiligen und es werden Parteien gesucht, die die innere Zerrissenheit der Wähler befrieden indem sie klare und kontroverse Positionen beziehen.“

Tatsächlich reagiert inzwischen auch die CDU auf die Aggression gegen Angela: Sie lässt pfeifen – Protestierer von der Polizei abdrängen zu lassen, gäbe noch schlechtere Fernsehbilder. Merkel sagt meist ein paar Sätze zur Lautstärke. Dass sich die Wähler überlegen sollten, ob sie glaubten, dass es gelingen könne, „mit Pfeifen und Schreien Deutschland voranzubringen“.

Manche Redner finden auch deftigere Worte. Die Oberbürgermeisterin in Brandenburg/Havel  etwa schimpft von der Bühne auf „die Pfeifen, die pfeifen“. „Sie will keiner in dieser Stadt“, ruft die örtliche Bundestagskandidatin.

Es sind ungewöhnliche Worte für eine CDU-Politikerin. „Da haben wir sie getroffen“, freuen sich hinterher ein paar der Demonstranten im Zug nach Berlin. Auf der Rückreise planen sie ihre nächsten Trillerpfeifen-Einsätze.