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Abwanderung in die alten Länder Abwanderung in die alten Länder: Westwärts und vergessen

Von Bernhard Honnigfort und Franz Schmider 23.07.2001, 16:26

Hirschfelde/Lörrach/MZ. - Im letzten Jahr vor der Wende wurden in denostdeutschen Ländern noch 220000 Kinder geboren.1994 waren es gerade noch 79000, im vergangenenJahr 104000. Nirgendwo sonst auf der Weltwerden weniger Kinder in die Welt gesetztals in Ostdeutschland: statistisch 1,1 proFrau. Von den 5000 Einwohnern, die Hirschfeldeeinmal hatte, sind 1500 weggezogen.

Früher wollte Elke Fiedler auch einmal weg,nach Mecklenburg, in den Norden. Aber darauswurde nichts. Ihre Stelle mag sie nicht aufgeben,außerdem haben sie und ihr Mann Freunde imOrt. Im kommenden Jahr wird die Mittelschulegeschlossen, ihre Grundschule bleibt. VieleJugendliche zögen weg, erzählt Elke Fiedler.Ihre Finger an den Händen reichten nicht aus,wenn sie alle aus ihrem Bekanntenkreis aufzählenwollte. "Für Jugendliche gibt es hier nichts",sagt sie. "Kaum Arbeit, keinen Jugendclub,keine Disco, keine Kneipe, kein Kino. Allesist eingegangen." Die Einzigen, die nach Hirschfeldezögen, seien Bundesgrenzschützer und Zollbeamte.Dort ist das Leben billig, ein altes Hausmit Grundstück schon für 12000 Mark zu bekommen.

Anderswo im Osten haben bunte Farben, neueFassaden und Dächer längst das Rennen gegenden Verfall und das Grau gewonnen. In Hirschfeldenicht. Um die alte Kirche stehen viele Häuserleer und warten auf bessere Zeiten. Ganz soschwarz, meint Elke Fiedler dennoch, sehesie die Zukunft nicht.

In Lörrach klingt das ein wenig anders. Vonden 100 Mitschülerinnen und -schülern ihresAbiturjahrgangs seien "wohl so 80" weggegangenaus der Region Zittau, erzählt Nicole Fiedler.Obwohl es in Zittau und Görlitz eine Hochschulegebe. Eine langjährige Freundin lebe nochin Hirschfelde. "Wenn wir uns sehen, kommtnach fünf Minuten der peinliche Moment, wenndas Schweigen beginnt." Sie habe das Gefühl,dass sich in der alten Welt nichts bewege.Das Leben sei stehen geblieben, die Mengeder Gemeinsamkeiten aufgebraucht. Vor allemaber: "Die anderen aus München oder Hamburg,die rufen auch einmal von sich aus bei miran. Nur die alte Freundin aus Hirschfelde,"die nicht".

Nicole ist da anders. Sie weiß: Wenn sie etwaserreichen will, muss sie selbst aktiv werden.Wie ihre Schwester Monique. Im Sommer, wenndie 16-Jährige ihren Realschul-Abschluss gemachthat, wird sie nach Stuttgart ziehen und eineLehre im Hotelfach beginnen. Der Vertrag istunterschrieben, eine Wohnung hat sie schon.

Sie wird eine weitere von bislang einer MillionEinwohnern sein, die die fünf ostdeutschenLänder in den vergangenen zehn Jahren verlorenhaben. Hält der Trend an, wird die Bevölkerungszahlbis 2020 noch einmal um eine halbe Millionsinken.Europaweit haben Sachsen, Sachsen-Anhalt undThüringen die höchsten Abwanderungsraten -nur die portugiesische Armenregion Alentejoweist vergleichbare Zahlen auf.

"Ich will mich nicht beschweren", sagt ElkeFiedler. Wegziehen wollen sie und ihr Mannnicht. "Da müsste es schon ganz schlimm kommen."Aber große Hoffnungen auf neue Arbeitsplätze,Betriebsansiedlungen oder große Investorenhat sie nicht. Wie sollte sie auch? Gewerkschafterund Arbeitsamt machen sich längst keine Illusionenmehr. Wer keine Lehrstelle finde, müsse inden Westen gehen, sagte schon vergangenesJahr der sächsische DGB-LandesvorsitzendeHanjo Lucassen.

Das Bautzener Arbeitsamt heuerte sogar Bussean, die Lehrstellensucher Ostins Lehrstellenparadies West brachten. NachFreising bei München ging die Tour. Doch nurwenige griffen zu. Die meisten wollten lieberzu Hause bleiben, geschockt von hohen Mietenund Preisen im Westen.

Nicole Fiedler komme nicht so häufig nachHause, sagt ihre Mutter. 900 Kilometer - einekleine Weltreise. Ostern sei sie zu ihr nachLörrach gefahren: Neun Uhr Abfahrt Löbau,18 Uhr Ankunft in Basel. Ob sie eines Tageszurückgehe nach Hirschfelde? "Nein", sagt Nicole Fiedler,"was soll ich dort? Da gibt es bald nur nochalte Leute."